1999 war für die Schweiz ein bedeutendes Jahr. Erstmals hatten wir eine Bundespräsidentin. In ihrer Fernseh-Neujahrsansprache sitzt Frau Dreifuss vor der Kulisse des Bundeshauses, die Kuppel vor blauem Hintergrund umstrahlt von den EU-Sternen. Auf dem Bundeshaus fehlt die Schweizerfahne . Die Begriffe Eidgenossen und Eidgenossenschaft kommen nicht über die magistralen Lippen. Frau Dreifuss redet viel von Solidarität und spannt den Bogen rasch von den bilateralen Verhandlungen hin zum für sie sehr wünschbaren EU-Beitritt. Dass das Jahr 1999 für die freie Schweiz nach 1291 das wohl bedeutendste Jubiläumsjahr darstellt, erwähnt sie mit keinem Wort. Sie will im nach ihrer Auffassung letzten Jahr des Jahrhunderts, die Schwergewichte anders legen.
Die andere Schweiz feierte 1999 still, von Behörden und Medien mit Rücksicht auf Deutschland kaum erwähnt, 500 Jahre Unabhängigkeit vom Deutschen Reich als Folge der Schlacht von Dornach 1499. Damals wollte der Deutsche Kaiser Maximilian , um Ordnung ins Reich zu bringen, auch die Eidgenossen dem obersten Reichskammergericht unterstellen. Zudem sollten sie ihm künftig wieder eine Reichssteuer bezahlen. Als sie sich weigerten, zog er gegen sie in den Krieg. Der nach der verlorenen Schlacht von Dornach ausgehandelte Friedensvertrag befreite die Eidgenossen von den gestellten Forderungen und bedeutete praktisch die Loslösung vom Deutschen Reich. Die internationale Anerkennung unserer Unabhängigkeit erfolgte dann im Westfälischen Frieden 1648. Seither regeln wir die zwischenstaatlichen Probleme mit unseren Nachbarländern als gleichberechtigte Partner in bilateralen Verhandlungen. Bereits im Jubiläumsjahr 1998 verzichtete die offizielle Schweiz darauf, 350 Jahre anerkannte Unabhängigkeit zu feiern. Aengstlich liess der Bundesrat verlauten, ein Gedenken an 1648 könnte in Brüssel falsch verstanden werden. Unsere oberste Landesbehörde scheint jeden Stolz verloren zu haben.
Aber auch die Bürgerschaft ist nicht mehr die alte. Die Angriffe der jüdischen Organisationen auf unser Land und der blamable Bergier-Bericht haben unser Selbstbewusstsein im Mark getroffen. Viele Mitbürger und Mitbürgerinnen fühlen sich gedemütigt, traurig und verunsichert.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns ermannen und wieder auf die Werte unseres Staates besinnen. Wir haben, weiss Gott, nicht alles falsch gemacht. Bestimmt nicht mehr als unsere Nachbarländer. Fast alle hätten viele Untaten gutzumachen aus der Kolonialzeit und dem letzten Jahrhundert. Hat sich Italien je für seinen Gaskrieg in Abessinien entschuldigt? Wurden Frankreichs Menschenrechtsverletzungen in Algerien je geahndet? Sie und andere Staaten mit befleckter Weste sind längst zur Tagesordnung übergegangen, sind wieder stolze und selbstsichere Nationen.
Auch wir können und wollen auf unser Land stolz sein. Manches in der Welt wäre besser, würden andernorts die Grundgedanken unserer Staatsidee beachtet und aus unseren multikulturellen Erfahrungen Lehren gezogen, Probleme auf eidgenössische Art gelöst. Dann könnten die französischen und spanischen Basken einen eigenen Staat bilden. Frankreich würde Korsika in die Freiheit entlassen. Flamen und Wallonen könnten lernen, friedlich miteinander zu leben. Der Religionskrieg in Nordirland wäre längst beigelegt und Italien würde Südtirol die volle Autonomie gewähren. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien hätte nicht stattfinden müssen, Griechen und Türken würden nicht um Zypern streiten und die Kurden wären als freie Menschen stolze, unabhängige und neutrale Verwalter des Wasserschlosses Kurdistan .
Beenden wir die seit Jahren anhaltende ungerechtfertigte zerstörerische Selbsterniedrigung . Objektiv betrachtet, haben wir uns unserer Vergangenheit und des jetzigen Zustandes im Vergleich mit den übrigen Ländern der Welt nicht zu schämen. Wir verfügen über ein einmaliges, mustergültiges und ausbaufähiges politisches System, stehen wirtschaftlich gut da, agieren trotz Binnenlage erfolgreich in weiten Teilen der Welt, arbeiten in den humanitären Bereichen weltweit anerkannt mit, geniessen die Vorzüge eines Sozialstaates auf hohem Standard und erfreuen uns entgegen internen Unkenrufen bei jenen, die uns und unser System kennen, hoher Wertschätzung. Die Schwachstelle liegt nicht in der Staatsidee und den entsprechend gestalteten Einrichtungen, sondern im personellen Bereich. Wir Bürgerinnen und Bürger haben in den letzten Jahrzehnten teilweise versagt. Wir haben uns vom eidgenössischen Gedankengut entfernt, bösartig oder fahrlässig kreuz und quer verlaufende Gräben ausgehoben, die Armee ins Abseits gedrängt und im Zwist um unsere Rolle im Zweiten Weltkrieg die Aktivdienstgeneration verletzt. Vom Wohlstand gesättigt, verweichlicht und verunsichert, stehen wir zerstritten und verängstigt am Anfang des neuen Jahrtausends.
Umfallen sei keine Schande, sagt man, aber liegen bleiben. Ueberwinden wir daher die lähmende Angst vor Zukunft, Klimaveränderung , Globalisierung, Völkerwanderung , EU und möglichem teilweisem Alleingang , indem wir aufstehen und vorwärts schreiten. Nicht ängstlich wie in den letzten Jahren sondern mutig und mit Zuversicht. Denn Angst ist und bleibt ein schlechter Ratgeber. Visionen können sich verwirklichen, wenn Chancen erkannt werden und entsprechende Taten folgen. Was ist konkret zu unternehmen?