Dem Höhepunkt folgt Ziellosigkeit

Es wäre schön, wenn dieser Teil nicht geschrieben werden müsste. Wir haben im Abschnitt „Wurzeln“ über jene Zeiträume unserer Geschichte berichtet, welche die Staatsidee   Schweiz   entstehen liessen und daraus abgeleitet im Abschnitt „Staatsidee Schweiz“ die Staatsphilosophie unseres Landes zu erfassen versucht. Beim Lesen auch der folgenden Darlegungen ist zu bedenken, dass der Verfasser weder Historiker   noch Wissenschaftler ist und hier demnach lediglich die Gedanken eines überzeugten Eidgenossen und kritischen Bürgers wiedergibt.

Wir haben gesehen, dass unsere Eidgenossenschaft   in der Zeit um 1950, also anschliessend an den Zweiten Weltkrieg, staatspolitisch einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Ein in den harten Krisenjahren und in der gefahrvollen Kriegszeit   zusammengeschweisstes Volk hatte einen der kritischsten Zeitabschnitte seiner Geschichte heil überstanden und stand unternehmungslustig vor einer hoffnungsträchtigen Zukunft. Fünfzig Jahre später stellt sich die Frage, inwieweit die damaligen Vorstellungen verwirklicht werden konnten und, gegebenenfalls, was eine positive Entwicklung verhindert oder beeinträchtigt haben könnte.

Die Ausgangslage der Schweiz   im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg bot vielversprechende Aussichten. Im Gegensatz zum übrigen Kontinentaleuropa   waren unsere Wohngebiete, Industrien und die Infrastruktur vollumfänglich intakt. Der durch den Marshall-Plan geförderte Wiederaufbau der europäischen Industrien erzeugte auch in der Schweiz eine steigende Nachfrage nach Produktionsgütern aller Art. Politisch und psychologisch zeigte sich die Schweiz in einer beneidenswerten Verfassung. Die gute Wirtschaftslage   ging rasch in eine niegekannte Hochkonjunktur   über. Arbeitslosigkeit   gab es praktisch nicht, im Gegenteil, ausländische Arbeitskräfte fanden in stetig steigender Zahl bei uns eine für ihre Verhältnisse sehr gut bezahlte Beschäftigung. Auch der soziale Bereich entwickelte sich rasch. Die Einführung der AHV   und periodisch steigende und laufend der Teuerung   angepasste Löhne verdrängten die existenzbedrohende Armut   fast gänzlich und führten innert kurzer Zeit zu verbreitetem Wohlstand. Die zeitweise recht hohe Inflationsrate   wirkte schuldensenkend und erleichterte zukunftsgläubige Investitionen in den geschäftlichen wie privaten Bereichen. Positive Erfahrungen und Lehren aus Fehlern bildeten ein aus den schweren Jahren geerbtes Kapital, es trug reiche Früchte. Vertrauen herrschte zwischen allen Institutionen, politischen und sozialen Partnern und Schichten, zwischen den Landesteilen, Kantonen und Gemeinden, in der Armee , im Privat- wie im Berufsleben. Von grösster Bedeutung war die weitgehend wiedergewonnene Hochschätzung zwischen Stadt und Land. Es war die Zeit, als die Aktivdienstgeneration   die Gunst der Stunde nutzte, die Aermel hochkrempelte und sich daran machte, die während des Krieges verlorene Zeit aufzuholen, doch noch etwas aus dem Leben zu machen. Das Volk war dankbar, zufrieden und stolz auf sein Land. Es kam die Zeit der grossen, von der ganzen Bevölkerung getragenen eidgenössischen Veranstaltungen wie Unspunnenfest , Jodler-, Sänger-, Schützen- und Turnfeste. Wer fleissig arbeitete und sparsam lebte, konnte sich bald ein Auto leisten, machte erste Erfahrungen mit Ferien am Meer und den Daheimgebliebenen anerbot sich neben den traditionellen Freizeitbeschäftigungen   neu das Fernsehen .

Es war märchenhaft, aber eigenartigerweise merkten wir es nicht. Vorsehung , Gunst der Stunde, Glück und Kraft hatten uns fast unbemerkt den Wohlstand beschert, welcher uns, gepaart mit sozialem Frieden, in einer intakten Gesellschaft fast zum Staatsziel   führte, ein Leben in Würde   war möglich geworden. Erstmals war auch das Erreichen des vierten Teils unseres Bundeszwecks, der gemeinsamen Wohlfahrt   in greifbare Nähe gerückt. Aber leider hat diese seit Menschengedenken ersehnte glückliche Lage kaum jemand erkannt. Jedenfalls wurde diese Erkenntnis nicht öffentlich und, vor allem, politisch nicht verarbeitet. Und es wurde nicht realisiert, dass wir Wohlfahrt zusehends mit Wohlstand verwechselten. Andernfalls wäre die Frage nach der Vervollkommnung und dem Erhalt des Lebens in Würde und dann nach neuen Zielen der Eidgenossenschaft   und den Wegen dazu aufgetaucht. Warum wir dies nicht sahen, vermag ich nicht zu beurteilen, vermutlich waren es bereits die ersten Folgen der Wohlstandsgesellschaft . Drei Massnahmen hätten damals ergriffen werden müssen.

Erstens waren die letzten Schranken auf dem Weg zu einem Leben in Würde   zu beseitigen. Herrn und Frau Schweizer musste sozusagen ein Training zum Nehmen der letzten Hürden angeboten werden. Wohlverstanden, ein Leben in Würde kann vom Staat weder verordnet, noch geschenkt werden, aber er soll, immer bei klarer Grenzsetzung zwischen Wohlfahrt   und Wohlstand, die Voraussetzungen dazu schaffen, dass der Einzelne das Ziel zu erreichen vermag. Durch das Angebot einer verbreiterten, Kopf, Hand und Herz umfassenden Allgemeinbildung   auf der Grundlage eidgenössischer Gesinnung   und durch Werbung für die Staatsidee   Schweiz   als freiwillig gewähltem gemeinsamem Weg zu einem Leben in Würde.

Zweitens wurde die beneidenswerte staatspolitische und wirtschaftliche Lage nicht als ausserordentlich erkannt und eingestuft. Darum unterblieben Planungen und vorsorgliche Massnahmen für den Fall des Ueberbordens der Hochkonjunktur   oder krisenartige Rückfälle. Mahner wurden ausgelacht, ihre Ratschläge blieben weitgehend unbefolgt.

Drittens hätte, nach Erreichen der Zweckbestimmung unseres Bundesstaates, eine erweiterte Zielsetzung diskutiert, erstritten und in der Bundesverfassung   festgeschrieben werden müssen.

All dies geschah nicht und die nachteiligen Folgen sind seit Jahren erkennbar. Staatspolitisch katastrophal wirkt sich die dritte Nachlässigkeit bis auf den heutigen Tag aus. Da wir uns nach Erreichen des letzten Bundeszweckes keine neuen Ziele setzten, treten wir seit den 6oer-Jahren an Ort. In selbstgefälliger Trägheit lebten wir vor uns hin, gerieten in eine hemmende Sattheit, zum Teil sogar in eine Uebersättigung. Und begannen, wie kleine Kinder, endlos um die Verteilung des Kuchens zu feilschen, statt neue Kuchen zu backen. Da es keine neue, grosse Herausforderung zu bewältigen gab, verloren wir uns in kleinlichem Parteiengezänk   und ideologischen Scharmützeln. Diese ungute Entwicklung zeigt heute Wirkung. Es wird nicht mehr regiert, nur noch reagiert wenn die Jauche am Halse steht, meist werden Land und Kantone   daher nur noch verwaltet. Und oft wird leider nicht einmal das redlich besorgt. Regieren heisst nach eidgenössischer Denkart, den durch die Mehrheit an der Urne bestimmten Volkswillen in die Tat umsetzen. Nichts mehr und nichts weniger, aber das treu und konsequent, dem geleisteten Eid entsprechend.

Diese eigentlich unverständliche lethargische Haltung darf aber nicht nur der Regierung angelastet werden. Wir alle, die älteren Bürger, haben versagt. Das Fehlen neuer Ziele führte schwergewichtig zum Halten des bereits Bestehenden. Und „wer nicht weiss, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er irgendwo ankommt“. Was haben wir verpasst? Wo sind wir angekommen?

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