Der gewollte Staat

Während die ersten fünf im Abschnitt „Wurzeln“ grobmaschig betrachteten Jahrhunderte im Zeichen der Befreiung, dem Erreichen der Unabhängigkeit   standen, ist die zweite Hälfte des letzten Jahrtausends durch den Ausbau des Schweizerhauses und den steten Kampf um dessen Fortbestand gekennzeichnet. Weiterausbau und Existenzsicherung , zwei Daueraufträge, auch für die heutige Generation und für kommende Geschlechter. Existenzsicherung? Wir sehen weit und breit keinen Feind! Wer sollte unser Land bedrohen? Die Schweiz   ist in ihrer Existenz immer bedroht, weil es sie eigentlich gar nicht geben müsste.

Wenn wir die Europakarte betrachten, können wir topographisch völlig anders, in verschiedener Beziehung weit günstiger gestaltete Staaten erkennen. Etwa Grossbritannien, eine Insel­gruppe, durch das Meer allseitig klar begrenzt und geschützt, in sich geschlossen, mit eigener Sprache und selbständiger Kultur. Oder Italien:   Die einem Stiefel nachgezeichnete Halbinsel, im Norden durch Apennin, Po und Alpenkette dreifach abgeschirmt, fast ausschliesslich einsprachig und auf einer uralten eigen­ständigen Kultur aufgebaut. So gelagerte Staaten können stürmische Wirren, ja gar Eroberungen und langjährige Be­setzungen erleben, auf Dauer gesehen bleiben sie was sie sind, Grossbritannien, Italien, Iberien, Frankreich . Sie mögen sich politisch wohl verändern, im Kern bleiben sie erhalten. Unverkennbar, unverwechselbar.

Nicht so die Schweiz , diese kann mit einem einzigen Federstrich für immer vernichtet werden: Die welschen Kantone   kommen zu Frankreich,   die deutschsprachigen zu Deutschland   oder Oesterreich,   das Tessin   und Teile Graubündens zu Italien.   Aus und Amen. So einfach ist das. Die deutschen und italienischen Generalstäbe haben während des Zweiten Welt­krieges solche Landkarten entworfen, vor ihnen Napoléon und andere Kaiser und Könige. Die Schweiz, ein weitgehend zufällig abgegrenztes und auf den ersten Blick   unwirtliches Alpenrevier, besteht als Staat nur, weil das unsere Ahnen so wollten und nur solange, als es die jeweils in diesem Lande lebende Generation will. Wir sind eine Willensnation . Der die Eidgenossenschaft   zusammenhaltende Kitt besteht also nicht aus topographischen oder sprachlichen Zwängen, auch nicht aus ethnischen, religiösen oder kulturellen. Im Gegenteil, all diese Kriterien sprechen gegen die Existenz unseres Landes. Das Fundament unseres Staates bildet die Eidgenössische Gesinnung , eine geistige Kraft, welche die Staatsidee   Schweiz sich entwickeln und bis heute bestehen liess.

Als erfolgreiche Willensnation   sind wir, soweit ich dies zu über­blicken vermag, allenfalls noch mit den USA zu vergleichen. In der Art ähnliche Voraussetzungen zur Bildung   einer Willens­nation wären allerdings in Ex-Jugoslawien   auszumachen. Nach dem Ableben Titos und dem Zusammenbruch der Schutzmacht Sowjetunion   bot sich den jugoslawischen Gliedstaaten   die Möglichkeit, sich als Willensnation neu zu konstituieren. Wie wir wissen, konnte diese Chance, in doppelter Hinsicht und mit fürchterlichen Folgen, nicht wahrgenommen werden. Warum nicht?

Die auf dem Balkan   angesiedelten Völker erlebten eine äusserst bewegte Geschichte und es ist kein Zufall, dass sich der den Ersten Weltkrieg auslösende Mord in Sarajewo   ereignete. Das jugoslawische Völkergemisch setzt sich zusammen aus Serben, Kroaten, Slowenen, Makedoniern, Montenegrinern, Madjaren, Rumänen, Albanern und Bulgaren, alles Minderheiten mit ihren entsprechend vielfältigen Sprachen, eine Mehrheit bilden lediglich die südslawischen Völker zusammengenommen. Der grösste Teil der Bevölkerung zählt zu den orthodoxen oder römisch-katholischen Christen, etwa ein Zehntel sind Juden oder Mohammedaner.   Jugoslawien erduldete als Ganzes oder in Teilen eine Unzahl Kriege, Besetzungen, Aufteilungen und Neu­zusammen­fügungen unter dem Einfluss der Türkei , Italiens, Frankreichs, Oesterreich-Ungarns, Deutschlands oder der Sowjetunion . Dementsprechend wurden die verschiedensten kulturellen Strömungen wirksam, Jugoslawien dadurch im wahrsten Sinne des Wortes zu einem multikulturellen Staat.

Bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmten immer gekrönte Häupter das Geschehen dieser europäischen Region, zuletzt König Peter II.,   1941 gestürzt, ging nach England   ins Exil. Während der deutschen Besetzung entstanden zwei Wider­stands­bewegungen, eine royalistische und die von Tito   geführte kommunistische. Nach dem Krieg gewann Tito die Oberhand und bildete die aus sechs Volksrepubliken bestehenden sozialistische Bundesrepublik Jugoslawien, welche er bis zu seinem Tod mit starker Hand führen sollte. Ab 1948 ging er auf Distanz zu Moskau, näherte sich dem Westen, zählte Jugoslawien hinfort zu den Neutralen und wurde Wortführer der paktfreien Staaten. Dank seiner Zwitterstellung gelang es ihm, Wirtschaftshilfe von beiden Seiten zu erhalten. Im Norden, in Slowenien und Kroatien, weit weniger in Serbien , entstanden namhafte Industrien, entlang der Adriaküste entwickelten sich beliebte Ferienorte. Weite Gebiete des Staates blieben aber wirtschaftlich krass zurück. Nach Titos Tod konnten sich die massgeblichen Führer, die Präsidenten der Teilstaaten, nicht auf eine vernünftige Nachfolgeregelung einigen, was zum bekannten Blutvergiessen führte. Die Entwicklung der letzten vierzig Jahre war präzise so verlaufen, wie es geschehen muss, wenn die Möglichkeit zur Bildung   einer Willensnation   vertan werden soll. Einige Aspekte dieses Geschehens finde ich daher für unsere weiteren Betrachtungen beispielhaft.

Die einseitige wirtschaftliche Entwicklung der Industrie - und Tourismusgebiete führte zu einem grossen sozialen Gefälle. Tito , als Widerstandskämpfer und später als Gratwanderer zwischen Ost und West von einer starken Mehrheit akzeptiert, wurde zur Kultfigur, zur einigenden Verkörperung der Staatsidee   und hinterliess bei seinem Hinschied eine entsprechende, innert nützlicher Frist nicht schliessbare Lücke. Jeder der Präsidenten der Teilstaaten trachtete danach, seine Machtstellung auszubauen. Aehnlich wie seinerzeit die Sonderbundskantone suchten sie Unterstützung im Ausland, Slowenen und Kroaten beim traditionellen Freund Deutschland,   Bosnien bei Frankreich   und Serbien   bei den ethnisch verwandten ehemaligen Ostblock­staaten ; die Katholiken in Rom und die Mohammedaner   bei ihren Glaubensbrüdern. Mit der voreiligen Anerkennung der kroatischen und slowenischen Unabhängigkeit   hat Deutschland ein halbwegs friedliches Zusammenraufen der sich gegenseitig konkurrenzierenden Präsidenten mindestens erschwert und damit den nachfolgenden Bürgerkrieg mitverschuldet. Diese Ent­wicklung bestätigt meines Erachtens die These, wonach sich bei innenpolitischen Auseinandersetzungen ausländische Partei­nahmen oder gar Interventionen ungünstig auswirken. Keinem Volk kann Frieden und Einigkeit von aussen vermittelt werden. Das Volk muss ein friedliches Zusammenleben wollen. Falls es das noch nicht kann, muss es dies eben lernen, muss allenfalls gar mit Waffengewalt Ruhe und Ordnung   und damit die Voraussetzung für eine friedliche demokratische Gemeinschaft schaffen. Niemand kann verfeindete Volksgruppen auf Dauer daran hindern, sich die Schädel einzuschlagen. Ein Beispiel ist Korea,   wo schweizerische Waffenstillstandsüberwacher seit Jahrzehnten die Trennungslinie zwischen Menschen hüten, welche deren Ursachen lediglich noch aus den Geschichts­büchern und aus der Sicht ihrer Seite kennen und auch in der dritten Nachkriegsgeneration   nicht fähig sind, das Zusammen­leben ohne fremde Hilfe friedlich zu gestalten. Auch Völker müssen eben offenbar durch Schaden klug werden. Noch so gut gemeinte Ratschläge von aussen helfen wenig oder nichts.

Besonders gravierend wirkte sich im ehemaligen Jugoslawien auch der Umstand aus, dass die Kader und Mannschaften des Stehenden Heeres sich vor allem aus serbischen Zeitsoldaten   rekrutierten, was den Serben im späteren Bürgerkrieg die be­kannte Uebermacht bescherte. Jahrelang hatten Slowenen und Kroaten gerne auf zusätzliche Militärdienste verzichtet und sich lieber in den blühenden Wirtschaftszweigen Industrie   und Tourismus   betätigt. Zu Beginn des Bürgerkrieges verfügten die Serben daher faktisch über eine gut gerüstete Berufsarmee , der die Milizen der übrigen Teilstaaten nicht die Stange zu halten vermochten. Die Völker Jugoslawiens, jahrhundertelang von Königen und zuletzt von einem Diktator   beherrscht, im Umgang mit demokratischem Gedankengut also völlig unerfahren, mussten so eine Einsicht teuer bezahlen, zu welcher wir, nach vielen und oft ebenfalls schmerzlichen Experimenten viel früher gelangt sind: Nur Allgemeine Wehrpflicht   und Milizarmee können verhindern, dass eine Volksgruppe die übrigen be­herrschen kann.

Und ein dritter Gesichtspunkt: Nachdem es im Pulverfass Balkan   während Jahrhunderten immer wieder zu offenen Konflikten zwischen den verschiedenen Glaubensgruppen ge­kommen war, hielt Tito   die entsprechenden Rivalitäten während zweier Generationen unter Kontrolle. Nach dessen Tod jedoch entstand eine verständliche Reaktion. Die verschiedenen religiösen Gruppen, dem Nachholbedarf gehorchend und von den jeweiligen ausländischen Oberhirten ermuntert, wollten ihre angestammte Kultur leben. Die Jüngeren erstmals, die Senioren im Gedenken an frühere Zeiten. Die Erfahrung im freien Umgang mit der Kultur Andersgläubiger fehlte jedoch fast gänzlich. Nur so lassen sich die unvorstellbaren Greueltaten gegenüber Mit­menschen und Kulturgütern erklären. Was wir an diesbe­züglicher Erfahrung während Jahrhunderten erworben und lücken­los von Generation zu Generation weitervermittelt haben, Achtung und Toleranz   in Glaubensfragen, müssen jene Menschen heute lernen. Auch hier gilt: Koexistenz von unterschiedlichen Kulturen kann nicht befohlen werden; weder von UNO , EU   noch OSZE . Sie will gelernt sein, die Menschen müssen sie wollen.

Alle unsere Nachbarländer blicken auf eine weniger komplizierte Entstehungsgeschichte zurück als die Balkanstaaten und wir. Die meisten Völker sahen sich nie vor die Frage gestellt, ob sie einen eigenen Staat bilden wollten und wie dieser gestaltet sein sollte. Sie waren schon lange irgendwie da und über Veränderungen wurde auf höherer Ebene autonom entschieden. 1998 feierten wir unter anderem den Tag, da die Verant­wortlichen von 1848 sich über alle Gräben   hinweg die Hände reichten zur Erneuerung der Eidgenossenschaft . All jenen, die sich fragten, ob wir denn überhaupt etwas zu feiern hätten, möchte man zurufen: „Schaut nach Jugoslawien, lernt die Geschichte unserer Nachbarstaaten kennen und dann denkt nach!“

Wir feierten 1998 den Sonderfall Schweiz , dankbar, ohne Ueberheblichkeit, aber mit berechtigtem Stolz.  

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