Ein paar Überlegungen zum Anarchismus anlässlich des Kongresses im August 2012 in St-Imier und dazu, was der Anarchismus mit der EU-Frage und der direkten Demokratie zu tun hat.
Der Anarchismus wobei der bestimmte Artikel wohl schlecht gewählt ist, man würde besser von Anarchismen sprechen vertritt im Selbstverständnis die Idee der Herrschaftsfreiheit: kein Mensch soll über einen anderen herrschen. Was genau unter herrschen zu verstehen ist und wieviel Organisation der Gesellschaft sich mit der Idee verträgt, ist dabei bei den Anarchisten umstritten. In der Öffentlichkeit hingegen wird der Anarchismus mit Gegnerschaft zu jeder gesellschaftlichen Ordnung oder gar mit Terrorismus identifiziert. Für beide Vorurteile sind die Anarchisten historisch gesehen zum Teil auch mitverantwortlich. Vor allem wurde der Anarchismus jedoch im 20. Jahrhundert Opfer von negativer Propaganda, wie dies vor der Französischen Revolution auch bezüglich der Demokratie der Fall war (s. als ersten Einstieg den lesenswerten Artikel in Wikipedia ).
Bis ins 18. Jahrhundert wurde Demokratie meist abschätzig als "unkontrollierte" Macht des Volkes verstanden und war damit mit dem im 20. Jahrhundert gängigen Verständnis des Begriffs Anarchismus weitgehend synonym. Seit dem 18. Jahrhundert wird unter Demokratie vor allem repräsentative Demokratie in der Form von Parlaments- und Regierungswahlen verstanden. Dagegen gilt direkte Demokratie allgemein als schon fast utopischer Idealzustand. Im Vergleich zu Monarchie und Diktatur geht es sowohl bei der Demokratie wie auch beim Anarchismus eigentlich um das Recht der Bevölkerung sich selber zu organisieren. Gegenüber "moderner" Demokratie steht der Anarchismus aber für ein konsequenteres Recht auf Selbstorganisation und einen ausgeprägteren Schutz der Freiheiten, auch von Minderheiten.
Herrschaftsfreiheit
Es stellt sich beim Ruf nach Herrschaftsfreiheit die Frage, was damit genau gemeint ist. Bei den Soziologen oder Politologen wird man bei der Suche nach einer griffigen und funktionierenden Definition kaum fündig (s. für eine technische Diskussion des Machtbegriffs Paul Ruppen (1993) Construction dun réseau de termes sur le pouvoir, Bern, Peter Lang). Von einer solchen Definition hängt aber jede sinnvolle Diskussion ab. Handelt es sich um Herrschaft, wenn Beschlüsse gegen den Willen von betroffenen Personen durchgesetzt werden und diese Beschlüsse demokratisch und bei möglichst grosser Kompromissbereitschaft der Mehrheit gegenüber den Minderheiten sowie unter gleichberechtigter Mitbestimmung aller Betroffenen gefällt wurden? Wenn die Gesellschaft ohne solche Beschlüsse nicht so organisierbar ist, so dass die Menschen die Grundbedürfnisse befriedigen können und in Sicherheit leben können, und würde der Herrschaftsbegriff solche Machtausübung umfassen, wäre die Forderung nach Herrschaftsfreiheit abzulehnen. Aber selbst wenn man die Forderung nach völliger Herrschaftsfreiheit je nach Begriffsdefinition ablehnt, ist die Forderung nach möglichst reduzierter Herrschaft begrüssenwert. Bei der Diskussion der verschiedenen anarchistischen Strömungen und Organisationsformen, geht es denn auch vor allem um die Frage, inwiefern es solche Beschlüsse für eine sinnvolle Organisation der Gesellschaft braucht.
Freie Kooperation freier Individuen?
Die Idee von der herrschaftsfreien Zusammenarbeit der Menschen wird oft mit dem Schlagwort "freie Kooperation freier Individuen" zusammengefasst. Auch hier stellt sich die Frage, was "freie Kooperation" genau heisst. Ist unter freier Kooperation auch eine Kooperation zu verstehen, welche mit Einverständnis aller - oder fast aller - alle verpflichtet, gewisse Dinge zu tun, z.B. zur Schaffung öffentlicher Güter beizutragen, wie Schulen, Strassen, Eisenbahnen oder anderer Netze? Diesbezüglich gehen die Anarchisten oft davon aus, dass grundsätzlich alle gesellschaftlich zur Zusammenarbeit verpflichtet sind, dass die freiwillige Pflichterfüllung aber ausreicht und kein eigentlicher Zwang notwendig ist. Solche Kooperation ist durchaus möglich, wie die bewährten Arbeitspraktiken zur Entwicklung der technischen Spezifikationen des Internet und zur Entwicklung von Software in der Open Source Bewegung zeigen, wo es sehr gut gelingt, mit anarchistischen Organisationsstrukturen öffentliche Güter zu produzieren. Die in diesem Bereich gemachten Erfahrungen der letzten vierzig Jahre sind in Zukunft möglicherweise gut auf manche andere Bereiche der Gesellschaft übertragbar. Wie dem auch sei, die Forderung nach freier Kooperation freier Individuen in möglichst vielen Bereichen ist begrüssenswert. Einschränkungen sind allenfalls dann zu dulden, wenn sie sich als nötig für die Produktion grossmehrheitlich gewünschter öffentlicher Güter erweisen und durch demokratisches Einverständnis legitimiert werden.
Ablehnung des Staates
Eine wichtige Forderung des Anarchismus, und gleichzeitig jene Forderung die am meisten Missverständnisse auslöst, ist die Ablehnung des Staates. In der heutigen, aus Nationalstaaten bestehenden Welt, zeichnet sich ein Staat dadurch aus, dass er für ein bestimmtes, von der internationalen Gemeinschaft akzeptiertes Territorium die Verwaltungshoheit hat. Der Staat hat typischerweise eine Hauptstadt und eine Regierung, von der aus der Staat mehr oder weniger zentralistisch verwaltet wird. Es ist diese Verwaltungshoheit, die der Anarchismus ablehnt. Stattdessen besteht er auf der dezentralen Selbstorganisation des Territoriums. Aus dieser dezentralen Selbstorganisation aus freiem Willen entstehende staatsähnliche Strukturen der Zusammenarbeit über das ganze Territorium, und über dessen Grenzen hinweg in die ganze Welt, lehnen die meisten Anarchisten nicht ab. Aus anarchistischer Sicht handelt es sich dabei nicht um einen Staat. Es geht bei der Ablehnung des Staates also eigentlich nur um die konsequente Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips.
Eigentum ist Diebstahl
Ein weiteres Schlagwort aus der anarchistischen Tradition, das auf Pierre-Joseph Proudhon (1809 1865) zurückgeht, ist "Eigentum ist Diebstahl". Proudhon geht es dabei um Eigentum an Produktionsmitteln. Im Arbeitsprozess, wo Menschen für Geld arbeiten müssen, wird von den Eigentümern oder dessen Verwaltern Herrschaft auf die Arbeitnehmer ausgeübt und zwar in einem sensiblen Bereich. Wer nicht willfährig ist, droht die Arbeit zu verlieren. Gibt es nicht viele Alternativen zum augenblicklichen Arbeitgeber, liegen hier etliche Druckmittel bereit es geht immerhin um die materielle Basis des Lebens. Traditionell fordern die Anarchisten die Kollektivierung des Eigentums an Produktionsmitteln oft ohne zu verdeutlichen, was das genau heisst. Vermutlich heisst Kollektivierung von Eigentum, dass das Kollektiv mit demokratischen Strukturen die Unternehmung führt. Dies kann zum Beispiel in der Form von Genossenschaften umgesetzt werden, bei denen alle neuen Mitarbeiter automatisch Genossenschafter werden und beim Verlassen des Unternehmens wieder aus der Genossenschaft ausscheiden. Auch die Strukturen des Vereinswesens würden solchen Anforderungen entsprechen.
Schwieriger als die Organisationsformen, ist das Finden von sinnvollen, gut funktionierenden Wirtschaftsordnungen: Wie sind die Beziehungen zwischen den Kollektiven zu regulieren? Traditionell sind manche Anarchisten dafür, dass dies über Beziehungsnetze erfolgt, die von den Kollektiven kontrolliert werden es ergäbe sich eine Art Räterepublik.
Das Problem mit solchen Konzepten besteht darin, dass sie faktisch zur Bürokratisierung und Hierarchisierung der Gesellschaft führen. Die meisten Menschen haben kein Interesse daran, tagelang an irgendwelchen mühsamen Sitzungen herumzuhängen. Sie werden entsprechend Entscheidungsbefugnisse delegieren. Dies gilt vor allem für die interkollektive Ebene. Dadurch ergibt sich aber automatisch ein Wissensgefälle, das zu Machtungleichgewichten zwischen Individuen führt. Ohne eine von diesen ökonomischen Beziehungsgeflechten relativ unabhängigen Organisation der Gesellschaft (was de facto einem Staat gleichkommt), welche dem Individuum gewisse Rechte garantiert, würden sich unkontrollierte Machtverhältnisse bilden, die den Ideen der Herrschaftsfreiheit diametral entgegenliefen: die Forderung nach der Aufhebung des Staates durch die vernetzten Kollektive ist für die Freiheit der Individuen gefährlich. Selbst bei einem direktdemokratisch organisierten Rechtsstaat mit Gewaltentrennung bliebe das Problem, dass man als Invididuum dem jeweiligen Kollektiv recht stark ausgeliefert wäre, besonders dann wenn es keine anderen Kollektive gibt, die einem aufnehmen würden. Herrschaft hat sicher etwas mit Privateigentum an Produktionsmitteln zu tun, woraus man aber nicht schliessen kann, dass Herrschaftsfreiheit über Kollektivierung zu erreichen wäre.
Eine Alternative zur Regelung der Beziehungen zwischen den Kollektiven bestünde in einem Markt. Auch dieser würde allerdings eine staatliche Regulierung voraussetzen ohne die der Markt zu Oligo- oder Monopolen führen würde, die mit der Herrschaftsfreiheit unvereinbar sind. Es wäre zudem wiederum keineswegs garantiert, dass alle Menschen in einem Kollektiv Platz fänden. Die Auffassung, dass der Staat in die Kollektive und deren Vertretungen in interkollektiven Gesandtschaften zu verschwinden hat, wird denn auch nicht von allen Anarchisten geteilt. Proudhon vertritt die Vision eines Föderalismus von Gebietskörperschaften ohne Zentralstaat, wobei diese Gebietskörperschaften dann wohl einfach die Staaten wären auf tieferer Ebene.
Bei einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, die anarchistischen Ansprüchen genügte, müsste anstelle der Geldschöpfung durch Zinskredite und dem damit verbundenen reinen Wachstumsanreizen, eine Geldschöpfung auf Grund von gezielten, demokratisch legitimierten Anreizkriterien die Wirtschaftsaktivität lenken.
Ni Dieu, ni mâitre
Wichtiger am Anarchismus als die konkrete Ausgestaltung der verschiedenen Organisationsformen, welche ja schliesslich auch im Sinne der Selbstorganisation frei gewählt werden könnten, scheint die machtkritische und egalitäre Haltung dieser Strömung, und deren Betonung freiwilliger Kooperation. Eine solche Haltung ist für eine nicht nur formale Demokratie und einen Staat, der im Dienste der Bevölkerung steht, zentral. Für eine moderne Politik lassen sich aus dieser Haltung ein paar Prinzipien skizzieren, die von Bedeutung sind:
- Es muss möglichst vielen klar sein, dass die staatlichen Strukturen von möglichst der gesamten Bevölkerung die in diesen Strukturen lebt, gewollt (und auch bezahlt) sein müssen.
- Es muss möglichst vielen klar sein, dass die staatlichen Strukturen zwar nötig sind, aber dass sie ihren Zweck nur erfüllen können, wenn möglichst viele Menschen staatskritisch sind. Der Staatsapparat muss kritisch begleitet werden und seine Dienstfunktion ist stetig in Erinnerung zu rufen. Jegliche obrigkeitsstaatliche Kultur ist ständig aufzulösen. Die staatliche Verwendung der Mittel wird von den Bevölkerungen inhaltlich und nicht nur parlamentarisch kontrolliert.
- Entscheidungsbefugnisse sind möglichst nahe an den Bevölkerungen anzusiedeln, damit sie auf Entscheidungen Einfluss haben.
- Entscheidungskompetenzen dürfen nur so weit als nötig delegiert werden und möglichst wenig weit weg (geographisch oder gesellschaftlich).
- Das Prinzip der Herrschaftsfreiheit ist so weit als möglich anzuerkennen. Minderheiten ist immer so weit als möglich entgegenzukommen.
- Wenn immer möglich, sind öffentliche Güter durch freie Zusammenarbeit zu produzieren. Einschränkungen sind nur dann zu dulden, wenn sie sich als nötig für die Produktion grossmehrheitlich gewünschter öffentlicher Güter erweisen und durch demokratisches Einverständnis legitimiert werden.
- Identifikation mit dem Staat ist nicht anzustreben. Eigenes Engagement und freiwillige Zusammenarbeit mit anderen ist aber nötig, um die Distanz zum Staat klein zu halten.
Damit ist auch schon klar, was Anarchismen mit der EU-Integration zu tun haben könnten. Sie könnten eine wichtige Inspriationsquelle für Kritik an Tendenzen sein, Kompetenzen nach oben in Gremien zu verschieben, die demokratisch nicht kontrolliert werden oder die höchstens formal demokratisch zu kontrollieren sind.
16.7.2013, 12:04