Das weisse Kreuz im roten Feld

Nicht mit mir, sagte Hans, ein junger Mann. Fahnetürgg? Aufstehen, wenn die entrollte Schweizerfahne   vorbeigetragen wird? Sich bei Erklingen der Nationalhymne erheben? Bei feierlichen Anlässen den Tränen wehren? Andächtig die Inschrift auf einem Soldatendenkmal lesen? Ein wohliges Gefühl empfinden, wenn man im Ausland an die Heimat erinnert wird? Ich doch nicht. Altmodische, hinterwäldlerische Gefühlsduselei, Schnickschnack. Identifikation mit dem Vaterland ? Ich bin Weltbürger ! Am Auto das EU-Emblem. Schweizerkreuz? Nein, danke. Alles was nach Eidgenossenschaft   oder Armee   riecht, ist mir zuwider. Erinnert unangenehm an Krieg, den ich ablehne, Marschmusik tönt martialisch, das alles ist doch graues Mittelalter! Hört mir auf mit diesem Hurra-Patriotismus! Leere Worte, hohle 1. August-Reden!

Das Stadion tobt. Ein Länderspiel. Zehntausende identifizieren sich mit ihren Lieblingen auf dem Rasen, freuen sich oder leiden mit ihnen. Mit voller Stimme brüllen sie die einzeilige Fussball-Internationale, immer wieder. Wogende Begeisterungswellen wirken unterstützend. Fahnen werden geschwungen, viele Schweizerf­ahnen, diejenige der Gegner ist weit in der Minder­zahl. Schweizerkreuze sogar auf die Gesichter vieler Match­besucher gemalt. Man bekennt Farbe. Der Standort der Fan­gemeinde ist markiert. Hier Schweiz ! Hört, seht, wir sind da! Wir unterstützen Euch, wir gehören doch zusammen! Wir sind stolz auf Euch, auf unsere Schweizermannschaft!

Purer Nationalismus oder hehres Nationalgefühl ? Sublimierter Krieg? Nicht zu reden von der Sprache der morgen zu erwartenden Berichterstattung, gespickt mit aus dem militärischen Bereich entlehnten Ausdrücken!

Bei Beginn des Länderspiels wurde unsere Nationalhymne gespielt. Die Schweizermannschaft versuchte mitzusingen. Viele Anwesende erhoben sich und sangen mit. Hans auch.

Widersprüche? Ja und Nein. Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich an eine Ballade von Carl Spitteler: „Die beiden Züge.“ In etwa die gleiche Problematik. Spitteler hat das Gedicht vor bald hundert Jahren geschrieben. Wir Schweizer leben in einem gespaltenen Verhältnis zum öffentlichen Gefühlsbereich. Gefühle empfinden und Gefühle zeigen sind zwei Paar Stiefel. Vor allem einzeln, von Angesicht zu Angesicht. In der Masse gelingt es leichter, in Reihen auf den Rängen, alle Front Rasen. Da fällt man weniger auf, auch wer eine Träne zu unterdrücken sucht. Ist es das, was das Eintauchen in die Masse, wohl unbewusst, für viele so beliebt macht, uns so übermütig stimmt, so befreiend wirkt? Aufgenommensein in eine Gemeinschaft, ohne Gegenleistung, ohne Pflichten?

Hans wird meine Unterstellungen zurückweisen und eingestehen, so genau habe er sich diese Zusammenhänge noch nie überlegt. Aber es scheine ihm, es dünke ihn. Hier liegt wohl der Schlüssel zum Verständnis dieses geheimnisvollen Spannungsfeldes. Das Es, das Unbewusste. Das kollektive Unterbewusstsein. Die Volksseele. Aus ihr entspringen zugleich Ablehnung und gefühlvolle Hinneigung zum Vaterland , zu Patriotismus , Heimatliebe . Die in der Eidgenossenschaft   im Innern und mit dem Ausland im Verlaufe von Jahrhunderten gesammelten körperlichen, geistigen und gefühlsmässigen Erfahrungen finden ihren Niederschlag in der Staatsidee   Schweiz . Deren komplizierter Vernetzung wird man sich so richtig bewusst beim Versuch, ihren umfassenden Gehalt in abstrakte Worte zu fassen. Sie ist ein Konglomerat, eine Sammlung und Vermischung von geschichtlichen Lehren, gemachten Erfahrungen, Enttäuschungen, Hoffnungen, Idealen und Visionen. Sie ist daher nicht eine feststehende unveränderliche Proklamation wie beispielsweise die früher erwähnte englische Magna Charta , sondern vielmehr eine zwar auf bestimmten Prinzipien beruhende aber auch stets wachsende, sich den örtlich und weltweit ändernden Verhältnissen anpassende Vorstellung des optimalen Weges, der besten Methode hin zum Ziel, der Vision eines Lebens in Würde für Bürger und Volk. Die in der Staatsidee Schweiz wirksamen und im staatlichen Leben sich ausdrückenden Kräfte spiegeln eine grossartige Gesamtheitlichkeit in Pestalozzis Sinne, bildhaft dargestellt in „Kopf, Hand und Herz.“ Staatliches und persönliches Handeln im Gefolge unserer Staatsidee, also in Eidgenössischer Gesinnung , führt daher immer wieder zu Kompromissen. Unsere Staatsidee verlangt oft den Verzicht auf das intellektuell konsequente, opportunistische Maximum zugunsten des menschlich und moralisch vertretbaren Optimums. Sie verlangt den Mut zum Mittelmass. Zur Bescheidung auf die schweizerische Kleinwelt , wie Jean Rodolphe von Salis   sie verniedlichend und glorifizierend gleichzeitig nannte.

Diese Optmierungsprozesse sind oft schmerzhaft. Für die Jugend, welcher dadurch die rasche Erstürmung neuer Ziele verwehrt wird und für die Aelteren, die Liebgewordenes bedroht sehen oder sich gar von ihm trennen müssen. So erleben wir Aelteren gegenwärtig zutiefst betroffen die Entglorifizierung der Aktivdienstzeit, während die Jugend sich über die schwerblütige Auseinandersetzung mit der EU-Problematik ärgert. Solche staatspolitisch notwendigen Suchaktionen nach der verträglichen Mitte drohen gelegentlich zu Krisen, ja zu Zerreissproben für unser Volk auszuwachsen, die dann jeweils nur durch ein Abwägen in Eidgenössischer Gesinnung   und durch Handeln im allgemeinen Interesse entschärft werden können. Solche Vorgänge, die umso schwieriger lösbar sind, jemehr die Sache auch den Gefühlsbereich betrifft, hatten wir im Verlaufe unserer Geschichte viele zu erdulden. Alle haben in der Folge die Staatsidee   Schweiz   beeinflusst und steuern, zum Teil unbewusst, auch heute noch die Haltung des einzelnen Bürgers im persönlichen wie im staatlichen Bereich.

So, als unsere Urbewohner erkannten, dass den nächsten Winter nur überleben kann, wer Vorräte anlegt. Als die Waldstätter lernten, dass Freiheit ihren Preis hat und „der Frömmste nicht im Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Als die unbesiegbare Stärke auf dem Schlachtfeld der weisen Beschränkung auf die Verteidigung, höchstens aber auf die gewaltsame Inbesitznahme des Lebensnotwendigen rief. Als Stadt und Land auf die Ermahnung von Bruder Klaus   in gemeinsamer Abhängigkeit den Kompromiss   und die Bedeutung des rücksichtsvollen beidseitigen Nehmens und Gebens entdeckten. Als die Eidgenossen nach dem Verzicht Maximilians auf die Hoheitsrechte in ihrem Gebiet den Uebermut besiegen und in einer hektischen Zeit des technischen Umbruchs und der interkontinentalen Horizonterweiterung sich mit ihrer beschränkten Bedeutung bescheiden mussten. Als sie bei Marignano   geschlagen zehntausend Tote zurücklassen mussten, fast jede Familie ein Opfer zu beklagen hatte und der Entschluss reifte, künftig der Grossmachtpolitik zu entsagen und sich neutral zu verhalten. Oder als die Reformation   die Eidgenossen entzweite und Berns Warnung, dass Glaubensfragen nicht mit dem Schwert entschieden werden könnten, mühsam zwar, aber doch langsam Fuss fasste. Als sie nach dem erstmals als Neutrale erlebten Dreissigjährigen Krieg den Umgang mit dem Pferdefuss des Kriegsgewinnes und dem Neid der vom Kriegselend betroffenen Nachbarländer lernen mussten. Als die Entfremdung zwischen Stadt und Land und namentlich der Ausgang des Bauernkrieges die bisherige treue Ergebenheit der Landbevölkerung in einen bestenfalls skeptischen Respekt verwandelten. Als der Hunger die Söhne in fremde Kriegsdienste oder nach Uebersee trieb und das beginnende Maschinenzeitalter die ersten Wirtschaftsopfer forderte. Als Absolutismus , Aufklärung und Französische Revolution   auch hier zu Lande die Geister verwirrten, wenig später die schwache Tagsatzung   und die überforderten Regierungen der eidgenössischen Orte in ihrer Hilflosigkeit den Untergang nicht zu verhindern wussten und damit die Bevölkerung der Verunsicherung   und der Willkür fremder Heere preisgaben. Als es der Schmach des Bruderkrieges und der Grösse der Verlierer bedurfte, um 1848 den Bund zu erneuern. Jedesmal, wenn es seither galt, durch Verfassungsrevision oder neue Gesetze   in den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und übrigen Bereichen geschlossene Kompromisse zu bleibendem Recht zu machen und zusammen mit den Minderheiten durchzuführen. Als es galt, die zwei Weltkriege und die dazwischenliegende Wirtschaftskrise gemeinverträglich durchzustehen. Als die braune Propaganda uns mit Fahnen, Säbelrasseln und grossen Sprüchen die Chancenlosigkeit jeglichen Widerstandes bewusst machen wollte und gerade dadurch den in Opferbereitschaft, Gehalt der Landesausstellung , Verteidigungswillen, Anbauschlacht   und der Wirkung der Leitfigur Guisan   sichtbar gewordenen Trotz der Eidgenossen erzeugte.

Alle diese Ereignisse und noch viele mehr, erdbebenartige und leisere, haben unsere Staatsphilosophie, die Staatsidee   Schweiz   beeinflusst und leben in der Volksseele und damit in jedem einzelnen Bürger und in jeder Bürgerin weiter. Der Hang zum Mittelmass, die Abneigung gegen alles Euphorische, eine bald linkisch-stolze, bald bescheiden-eigensinnige Selbstsicherheit prägen daher unser Erscheinungsbild, das von Ausländern gelegentlich als störrisch oder nüchtern und von unserer in geschichtlichen Belangen wenig unterrichteten Jugend als bünzlig und langweilig, wenn nicht als hoffnungslos altväterisch empfunden wird.

Hans tanzt also durchaus nicht aus der Reihe und ist noch lange kein schlechter Eidgenosse, wenn er allem Pompösen, jeglichem Personenkult und den Versprechungen der Politiker   mit Skepsis begegnet. All zu leicht ist die Fahne am Mast durch den Gesslerhut zu ersetzen. Auch ich liebe minutenlange stehende Ovationen nicht. Ich kenne kaum Menschen die sie verdienen oder sie sind längst gestorben.

Trotzdem möchte ich gerne mit Hans sprechen und ihm erklären, welche Bedeutung ich der Schweizerfahne   beimesse. Natürlich ist sie vorerst ein Stück Tuch, das an sich weder Ehrfurcht noch Bewunderung verdient. Und tatsächlich ist ein Missbrauch der Fahne leicht möglich, das haben uns spätestens Nationalsozialismus , Faschismus   und Kommunismus gelehrt.

Die Fahnen im Stadion markieren Standort und Revier einer bestimmten Gruppe. Sie dienen allen Gleichgesinnten als Orientierung, als Wegweiser zu den Freunden, unter den Fahnen sammeln sich die Anhänger der betreffenden Mannschaft. Indem sie das Gesicht mit dem Wappen   zieren, bekennen sie Farbe. Das heisst, dass sie sich offen zu einem bestimmten Lager zählen, sie machen sich erkennbar für Freund und Anhänger der gegnerischen Mannschaft, wie ein Schiff auf dem weiten Ozean Flagge zeigt. Fahne und Wappen im Gesicht symbolisieren die Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die man liebt, unterstützt, ja mit Worten und notfalls gar mit den Fäusten zu verteidigen bereit ist.

Aehnlich verhält es sich mit der Schweizerfahne   als Landessymbol . Sie steht für die Staatsidee   Schweiz , weniger für ein Stück Land. Letzteres besorgen die Kantonsfahnen auf eindrückliche und selbstsichere Art. Im Gegensatz zu vielen anderen Völkern, deren Existenz und innere Zusammengehörigkeit durch Geographie, Rasse, Kultur, Sprache oder Religion bestimmt sind, die sich in einem Königshaus real verkörpert sehen und nach aussen durch einen Monarchen oder ein bürgerliches Staatsoberhaupt vertreten werden, haben wir nichts anzubieten, als unser weisses Kreuz   im roten Feld. Das Schweizerwappen   ist das einzig Sicht- und Greifbare von der Staatsidee Schweiz. Alles andere ist Philosophie, Vision, Ziel, Wollen, Weg. Wenn wir unser Hoheitszeichen grüssen, ehren wir daher nicht das Stück Tuch, sondern die grossartige Idee, welche durch die Schweizerfahne symbolisiert wird.

Wir haben gesehen, dass ein Staat, um den Bürgern ein Leben in Würde   ermöglichen zu können, unter anderem eine Fahne brauche, wie wir jetzt wissen als Symbol, zur Identifikation. Von gewisser Seite wird dies bestritten, unsere Fahne belächelt, oft gar verspottet oder aus ideologischer Ueberzeugung abgelehnt. Warum? Weil Hitler   die Welt unter der Hakenkreuzfahne ins Elend geführt hat und weil es heute wichtigere Ideale gebe, sagt man mir. Nur: Zielsetzungen, welche dann aufgezählt werden, wie Menschenrechte, Soziale Gerechtigkeit, Weltoffenheit , Solidarität , Europa, stellen keinen Gegensatz zu unserer Staatsidee   dar, sind vielmehr darin enthalten und somit auch durch die Schweizerfahne   symbolisch dargestellt. Was davon nicht erreicht ist, wartet der Verwirklichung durch die heute aktive oder eine künftige Generation. Die Bundesverfassung   gewährt die dazu nötigen Freiheiten. Wer sich aber darauf beschränkt, lediglich unsere Fahne zu verspotten, bekämpft indirekt auch die obigen Forderungen. Und noch etwas: Wer die Schweizerfahne herunterholt, schafft Platz für Neues, das ist ja wohl auch das versteckte Ziel. Nur, was wird dann an neuen Symbolen gehisst? Neokapitalismus? Globalisierung ? Internationale   Nichtmehrschweiz? Mafiastaat? Europäische Kolonie? Egoistischer Wohlfahrtsstaat?

Das Bedürfnis der Sportfreunde im Stadion, sich die Gesichter in den Landesfarben zu bemalen und ihre Fahnen zu schwingen, entspringt dem urmenschlichen Bedürfnis, durch unter­schied­liche Kennzeichen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Menschengruppe herauszustellen. Wir werden dabei an die uralten Runenzeichen erinnert, an die Totempfähle der Indianer und natürlich an die Zeichen vorerst der verschiedenen mit dem Kriegshandwerk befassten adeligen Geschlechter. Später haben sich teilweise auch bürgerliche Familien   ein Wappen   zugelegt. Der Beginn der Fahnen- und Wappentradition in unserer Kultur liegt in der Zeit der Kreuzzüge. Während wir im kleinen, verwandten oder sonst bekannten Personenkreis zum gegen­seitigen Erkennen keine zusätzliche Merkmale benötigen, wird die Kennzeichnung in grösseren oder aus Unbekannten bestehenden Gruppen durch Abzeichen, Armbinden, Uniformen, einheitliche zivile Kleidungsstücke wie Jeans, Leibchen oder Mützen nötig oder gewünscht. Besondere Bedürfnisse zeigten sich im militärischen Bereich, wo sowohl der einzelne Kämpfer auf kurze Distanz, wie auch Formationen auf grössere Ent­fernung, sicher erkennbar sein mussten. So stimmt für Wappen und insbesondere für Fahnen, was Heraklit sagte: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“. Mit verschiedenen Zeichen und Farben wurden Schilder, Helmbüsche und Wimpel gestaltet, später erschien das Wappen auch auf dem Siegel, an der Burg oder als Hauszeichen. Auch die einzelnen Kohorten der Eidgenossen begleitete schon bald ein Fähnchen zur Standortbezeichnung in die Schlacht. Die damaligen Feldzeichen   der Alten Orte erkennen wir zum Teil in den heutigen Kantonswappen wieder, den Uri-Stier, den Berner-Bär oder den Züri-Leu. Schwyz   trug schon früh ein weisses Kreuzlein im roten Feld. Gelegentlich, so schon in der Schlacht bei Laupen   1339, haben sich die Berner und ihre Verbündeten, ein weisses Kreuz   angeheftet. Da unser deutsch-österreichischer Erbfeind in der Zeit des Schwabenkrieges alle Eidgenossen Schweizer, gelegentlich auch Kuhschweizer nannte und die Eidgenossen die Bezeichnungen Schweiz   und Schweizer seither selber zu verwenden begannen, ist es naheliegend, dass sich das weisse Kreuz im roten Feld bei uns zum allgemeinen Feldzeichen entwickelte, vorerst allerdings mit durchgehenden weissen Balken. Offizielles Wappen unseres Landes wurde das Schweizerkreuz erst 1815. Damals beschloss die Tagsatzung   als Artikel 41 der neuen Verfassung: Das Siegel der Eid­genossen­schaft   ist das Feldzeichen der alten Schweizer, ein weisses, freistehendes Kreuz im roten Feld, samt der Umschrift SCHWEIZERISCHE EIDGENOSSENSCHAFT MDCCCXV. Man weiss nicht genau, warum das freischwebende Kreuz gewählt wurde. Naheliegend ist die Erklärung, dass dadurch ein Unter­schied zum mit durchgehenden Balken gezeichneten Wappen des Hauses von Savoyen geschaffen werden sollte.

Mit diesem Tagsatzungsbeschluss begann auch die ent­sprechende Neugestaltung der Schweizerfahne   und der Feld­zeichen . Leider geriet aber auch die Fahnenfrage in die Mühlen von Föderalismus   und Zentralismus . Wie wir es in solchen Lagen nicht anders kennen, wurden Kompromisse gesucht und gefunden: Fahnen mit durchgehendem weissem Kreuz , das Feld aber in den Kantonsfarben geflammt oder die neue Fahne mit dem Kantonswappen als Medaillon in der Mitte.

Es blieb dem späteren General Dufour   vorbehalten, die Schaffung eines einheitlichen Feldzeichens voller Ueberzeugung und mit aller Kraft voranzutr­eiben. 1830 unterbreitete er den verantwortlichen Behörden einen entsprechenden Vorschlag, welcher aber erst 1840 in die Tat umgesetzt wurde. Zum eigentlichen Landeswappen   wurde das neue Schweizerkreuz bei der Schaffung des Bundesstaates von 1848.

Dass wir gerade Dufour   die einheitliche Landesfahne zu verdanken haben, ist kein Zufall, ja ist für mich von symbolischer Bedeutung. Als mit der Militärordnung von 1817 in Thun die Zentralschule   gegründet wurde, war der junge Dufour als Hauptmann im Lehrkörper, wenig später deren Kommandant. Als liberaler Patriot eher zentralistisch eingestellt, nicht zu vergessen, er war Genfer und Genf   erst seit 1815 gleichberechtigter Kanton, verkörperte er bald den einigenden Geist des Offizierskorps. Er erkannte im Umstand, dass sich in seinen Zentralschulen, welche acht Wochen dauerten und zum Teil harte Prüfungen, sogar mehrtägige Gebirgsmärsche etwa über die Gemmi ins Leukerbad und über den Lötschenpass   zurück umfassten, Offiziere aus allen Kantonen und allen Waffengattungen kennen und schätzen lernten, als Chance für den eidgenössischen Gedanken. Die einheitliche Ausbildung   aller Kommandanten , die Unitée de doctrine und das in den Zentralschulen gewonnene gegenseitige Vertrauen sollten in den Wirren nach 1830 bis hin zum Sonderbundskrieg   reiche Früchte tragen. Er erkannte wohl als einer der ersten, dass nur die über zentralistischem und föderativem Streben stehende Eidgenössische Gesinnung   die Schweiz   befrieden konnte. Dies zu erreichen, galt sein ganzes Schaffen. Die Erziehung   der Kommandanten. Die Befähigung der kantonalen Kontingente zum gemeinsamen Einsatz. Die Verbesserung der materiellen und technischen Vorbereitungen der Armee . Die Schaffung eines zeitgemässen Kartenatlasses, der Dufourkarte . Die Beendigung von Aufständen in verschiedenen Kantonen ohne Blutvergiessen. Das Bestreben, Liberale   und Zentralisten in einer übergeordneten geistigen Mitte zu vereinen. Die menschliche Lösung des Sonderbundkonfliktes. Die Grenzbesetzung im Neuenburgerhandel . Und, wie oben erwähnt, die Einführung der Schweizerfahne   als einheitliches Feldzeichen .

Dufour   ist der Mann, der im 19. Jahrhundert wohl am meisten zur Wiedererstarkung der Eidgenössischen Gesinnung   geleistet hat. Als beredtes Zeichen seiner Geisteshaltung gilt sein Tagesbefehl zur Auslösung des Sonderbundfeldzuges, welchen Professor Reverdin als einen der schönsten Texte unserer Landesgeschichte bezeichnete. Auch das Volk erkannte die Grösse dieses Mannes. Er, der als Offizier und Privatmann sehr bescheiden lebte, der den Dienst am Vaterland   über alle anderen möglichen Zielvorgaben setzte, wurde nach 1848 mit Ehrungen, von Kinderzeichnungen bis hin zu Landschenkungen, überhäuft. Als er 1875 stirbt, strömen sechzigtausend Menschen aus der ganzen Schweiz   zu seinem Begräbnis nach Genf . Auf seinem Grabstein steht die von ihm selbst verfasste Inschrift: Guillaume Henri Dufour, Helvet. Dux (1787-1875).

Im Vorschlag zur Einführung eines einheitlichen eidgenössischen Feldzeichens hielt Dufour   am 6. Dezember 1830 Gedanken fest, die bis heute an Bedeutung nichts eingebüsst haben: „... Nur eine einzige Fahne zu haben, ist wichtiger, als man annehmen könnte, weil die Fahne das Zeichen des Sammelns ist, das Symbol des Volkstums. Wenn man dieselben Farben trägt, wenn man unter dem gleichen Banner kämpft, ist man eher bereit, einander in Gefahr beizustehen, man wird wirklich zu Brüdern. Und es scheint, dass ein feiner Unterschied die Männer voneinander trennt, wenn es einen solchen in den Fahnen gibt, unter denen sie angetreten sind. In schwierigen Augenblicken darf es jedoch keinerlei Unterschiede geben; alles muss daran gesetzt werden, ein kompaktes Bündel zu bilden...“

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