Der Umstand, dass wir bereits in früheren Zusammenhängen immer wieder von unserer Neutralität sprachen, zeigt, wie sehr diese mit unserer Staatsidee und der Innen-, Aussen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik vernetzt ist. Es ist daher auch verständlich, dass die Neutralitätsfrage je nach Epoche und nach dem persönlichen und politischen Standpunkt des Betrachters unterschiedlich beurteilt und bewertet wurde und wird. Und wenn die Neutralitätsfrage gar als Vehikel benützt wird um ausserhalb ihres Bereiches liegende politische Ziele zu verfolgen, können völlig gegensätzliche Bewertungen entstehen. Von einer unkritischen Verherrlichung bis hin zu einer absoluten Ablehnung. Auf solche kurzfristig-opportunistsische Betrachtungsweisen wollen wir nicht eingehen, weil sie der Sache sicher nicht gerecht werden. Es ist vielmehr richtig und wichtig, die Neutralitätsfrage in der langfristigen Perspektive und als Funktion der Eidgenössischen Gesinnung zu behandeln.
Zuerst gilt es mit aller Deutlichkeit festzustellen, was unsere Neutralität nicht ist: sie ist kein Dogma, schon gar nicht eine Religion! Zwei auf einer so verstandenen Neutralität aufgebaute Auffassungen sind daher sicher falsch: Einmal die Meinung, die Neutralität sei etwas so Hohes und Hehres, ja fast Heiliges, dass darüber kaum nachgedacht und diskutiert werden dürfe. Ebenso falsch ist aber auch die Einstellung, neutral sein sei eine moralisch so anspruchsvolle Zielsetzung, dass man ihr nie genügen könne, eine Neutralitätserklärung daher eine bewusste Täuschung, ein moralisches Mäntelchen für feige Drückebergerei und Profiteurtum, also etwas Scheinheiliges, etwas Schlechtes.
Ebenso deutlich und konsequent muss immer wieder betont werden, dass nicht das Ausland zu bestimmen hat, was wir unter Neutralität zu verstehen haben. Neutralität ist ein nach unseren Vorstellungen aufgebautes und zu verwendendes Instrument aus unserem Sicherheitsbesteck, dient dem Erhalt von Frieden in Freiheit und Unabhängigkeit und schafft uns den Freiraum für eine wirksame internationale Friedensarbeit , ist also nicht das Ziel an sich, sondern Mittel zum Zweck, Methode.
Man muss dies wiederum im grossen Zusammenhang sehen: Unser Staatszweck ist es, den Bewohnern dieses Landes in grösstmöglichem Umfang ein Leben in Würde zu ermöglichen. Dieses Ideal ist nie voll erreichbar. Jede Generation wird bestrebt sein, auf dem Weg zu diesem Ziel soweit wie möglich voranzukommen. Der Sonderfall Schweiz besteht unter anderem darin, dass bei uns alle ins Gewicht fallenden Voraussetzungen seit der Gründung der Eidgenossenschaft gegen die Existenz dieses Staates sprechen, dass die Schweiz nur besteht, weil es eine Mehrheit des Volkes so will, wir also eine Willensnation sind. Ein so um sein Bestehen ringender Kleinstaat muss und darf für sich in Anspruch nehmen, alle ihm für seinen Fortbestand nötig erscheinenden Vorkehren selbständig zu bestimmen und zu handhaben. Wir handeln daher legitim, wenn wir die uns aus dem Neutralitätsrecht erwachsenden Dauerpflichten treu erfüllen, die uns angemessen oder nützlich erscheinende Ausgestaltung der temporär anzuwendenden Neutralitätspolitik jedoch von Fall zu Fall bestimmen.
Im Bereich Neutralität werden verschiedene Bezeichnungen verwendet, oft verwechselt, falsch verstanden oder gar missbraucht. Neutralität, Neutralitätsgedanken, Neutralitätsrecht , Bewaffnete Neutralität, ewige oder dauernde Neutralität, gewöhnliche und gelegentliche Neutralität, Neutralitätspolitik , Neutralismus, Neutralisierung. Schauen wir die unsere Neutralitätspraxis betreffenden Begriffe etwas näher an.
Am Anfang stand für uns zweifellos der Neutralitätsgedanke, zurückgehend auf das Schlüsselerlebnis Marignano. Die Einsicht, dass bei der sich abzeichnenden Zusammensetzung der Eidgenossenschaft und deren geostrategischen Lage Parteinahmen einzelner Orte oder gemeinsam zugunsten von Nachbarstaaten den inneren Frieden gefährden und die Feindschaft der benachteiligten Nachbarn hervorrufen können. Der Entschluss, sich nicht mehr in fremde Händel einzumischen und damit auf jegliche Grossmachtpolitik zu verzichten.
Neutralität ist also nach unserem Verständnis eine Verhaltensweise. Sie ist nicht nur ein Begriff der Diplomatensprache, sondern eine urmenschliche Verhaltensform von Einzelpersonen und Gruppen. Neutral verhalten sich gute Eltern, wenn sie alle ihre Kinder gleich behandeln, keines begünstigen, sich in deren Kinderhändel nicht einmischen. Neutrales Verhalten erwarten wir auch von Erziehern, Vorgesetzten, Richtern und Beamten. So gesehen ist Neutralität also nichts Ausserordentliches, viel eher müsste es als das Normale gelten. Eine Frage zuerst viel mehr der Ethik, denn der Politik. Keine Personengruppe kann harmonisch zusammenleben, wenn der Grundsatz der Neutralität nicht beachtet wird. Warum soll diese Einsicht nicht auch für die Staatenwelt gelten? Wäre es bei allseitig neutralem Verhalten nicht viel besser um den Frieden in der Welt bestellt? So gesehen müsste nicht der Abseitsstehende seine Neutralität erklären, sondern der Nichtneutrale seine Parteinahme.
Aber so einfach ist es leider nicht. Weil wir alle keine Engel sind. Weil es die Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Wünschen gibt. In der Welt wie in der Nachbarschaft und in der Familie. Das Abseitsstehen der Eltern hört dort auf, wo das Grössere, Stärkere, Tüchtigere das Kleinere, Schwächere, Benachteiligte brutal ausnützt, mit Gewalt gefügig macht. Weil die grenzenlose Toleranz durch Intoleranz begrenzt wird. Hier muss zum Rechten gesehen werden. Durch die Eltern gemeinsam, mindestens in Uebereinstimmung. Es kann ja nicht so sein, dass der eine Elternteil sich neutral erklärt und die Hände in Unschuld wäscht, während der andere Richter oder Polizei spielen muss. Das gleiche Problem stellt sich im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen. Dabei hat sich der Neutrale im gewaltigen, wirrvernetzten Spannungsfeld Frieden - Krieg - Gewalt - Menschenrechte - Völkerrecht - Kollektive Sicherheit - Solidarität die komplizierteste Position ausgesucht. Und dies gilt nicht erst heute. Auch wenn wir gefühlsmässig zur Annahme neigen, so schwierig und umstritten wie heute sei die neutrale Haltung noch nie gewesen. Denken wir an den Dreissigjährigen Krieg, die Zeit Napoléons und die beiden Weltkriege.
Alle an einem Konflikt Beteiligten sind zwar froh, den Neutralen nicht auch noch zu den Gegnern zählen zu müssen und nutzen die sich aus der Situation ergebenden Vorteile, um den Unparteiischen am Ende mit Vorwürfen einzudecken. Wer Liebkind sein will tut gut daran, sein Hemd immer wieder rechtzeitig richtig in den Wind zu hängen. Nur, die Hauptaufgabe der Aussenpolitik des Kleinstaates Schweiz ist nicht momentan Liebkind zu sein, sondern der Beitrag zur langfristigen Existenzsicherung unseres Landes und zur internationalen Friedensarbeit. Der Neutrale muss damit leben, dass seine langfristig angelegte Friedenspolitik wenig attraktiv erscheint und kurzfristig beurteilt keinen Lorbeer bringt. Auch er will nicht, dass ein kriminell handelnder Staat unbestraft bleibt. Solang es aber keine neutralen Sanktionsbehörden gibt, UNO und EU sind leider nicht unparteiisch, bestimmt er sein jeweiliges Verhalten im Rahmen seiner Neutralitätspolitik selbständig. Wie wir wissen, ist uns eine Teilnahme an durch den Sicherheitsrat beschlossenen Massnahmen oft möglich. Wir verweigern das durch das Neutralitätsrecht Verbotene und bestimmen die im Rahmen der Neutralitätspolitik zweckmässige Mitarbeit. Im Bereich der Sicherheitspolitik sind uns dadurch enge Grenzen gesetzt. Der dauernde unversöhnliche Gegensatz von umfassender Neutralität und Kollektiver Sicherheit ist aber nicht hausgemacht. Er dürfte sich bei einer weltweit zunehmenden Vernetzung noch krasser bemerkbar machen und den externen und internen Kritikern unserer Neutralitätsphilosophie den Vorwand für erneute Angriffe liefern.
Dieses völlig ausweglos scheinende Lagebild entsteht allerdings dadurch, dass sich unsere Diskussion um die Neutralität in nach Schwarz und Weiss getrennte Grabenkämpfe verstrickt hat und mit akademischem Eifer und unter Zuhilfenahme der internationalen Neutralitätsterminologie Reviere absteckt und verteidigt, statt sich auf unser erprobtes Neutralitätsbesteck stützend den Kompromiss zu suchen. Wir neigen also dazu zu vergessen, dass wir als unabhängiger neutraler Kleinstaat das unbestreitbare Recht besitzen, die variablen Bereiche der Neutralitätspolitik unter Wahrung der Glaubwürdigkeit auf die aktuelle Nützlichkeit auszurichten.
Meinungsumfragen zeigen, dass rund vier Fünftel unseres Volkes für die Beibehaltung der bisherigen Neutralität eintreten. Dabei versteht der Grossteil unter Neutralität die Dauernde Bewaffnete Neutralität für den Fall und im Zusammenhang mit einem kriegerischen Ereignis, bekennt sich also zu der wohl folgenschwersten und anspruchsvollsten der möglichen Neutralitätsformen. Im Gegensatz zur international öfter gewählten Gewöhnlichen Neutralität, welche lediglich das Abseitsstehen bei kriegerischen Konflikten und die gleichbegünstigte Behandlung der gegnerischen Parteien verlangt, übernimmt der dauernd bewaffnet neutrale Staat zusätzlich bereits im Frieden zu handhabende Pflichten. So darf er keine militärischen Verträge eingehen, welche ihn im Kriegsfall der Entschlussfreiheit berauben könnten und er muss im Konfliktfall befähigt sein, seine Neutralität wirksam zu verteidigen. Er braucht also eine glaubwürdige Armee. Die immer wieder festgestellte grosse Zustimmung zu dieser Form der Neutralität bedeutet daher indirekt auch eine klare Bejahung der Landesverteidigung .
Angesichts der zunehmenden nichtmilitärischen Bedrohung unserer Sicherheit durch internationale Kriminalität, Drogenhandel, Migration oder Terrorismus, welche zugegebenermassen durch den einzelnen Staat kaum wirksam zu bekämpfen sind, ist die Zweckmässigkeit einer Absoluten Neutralität erneut ins Rampenlicht der Oeffentlichkeit gerückt worden und muss offen diskutiert werden. Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit nicht, wenn wir bereits in Zeiten relativen Friedens eine Differenzierte Neutralität proklamieren. Das würde heissen, wir halten an der Dauernden Bewaffneten Neutralität fest, passen aber die Anwendung des übrigen Neutralitätsrechts, beispielsweise bezüglich Teilnahme an nichtmilitärischen Aktionen der UNO , der jeweiligen Situation an. Hier gilt es offen zu bleiben, damit wir dem Kontrapunkt zur Neutralität, der Solidarität , die nötige Aufmerksamkeit schenken können. Mit der Erhebung der Solidarität, einer Tochter der Neutralität zur Staatsmaxime, hat der Bundesrat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg innen- und aussenpolitisch viel zur Akzeptanz unserer Neutralitätspolitik hinzugewonnen. Wieweit wir der damit gestellten Aufgabe in den letzten Jahrzehnten zu genügen vermochten, ist eine Frage des politischen Standpunktes. Und auch hier gilt: Das Mass der zu übenden Solidarität muss durch jede Generation neu bestimmt, aber dann auch bezahlt werden. Die Skala ist nach oben offen. Abzulehnen sind Umverteilungspraktiken, welche die Abwehrkraft der Armee schwächen und damit die Glaubwürdigkeit der Bewaffneten Neutralität gefährden würden. Bewaffnete Neutralität und Solidarität gegeneinander auszuspielen ist ohnehin unsinnig, weil beide letztlich dem internationalen Frieden dienen wollen und dieses Ziel gepaart leichter erreichen können. Unsere Neutralität steht nicht in Konkurrenz zur Solidarität, sie bildet vielmehr die solide Grundlage dazu. Sie hat zudem viel zum Aufbau des internationalen Vertrauens in unser Land beigetragen. Vertrauen aber bildet die unabdingbare Voraussetzung für jede erfolgreiche internationale Friedensarbeit .
Die Beschäftigung mit dem Neutralitätsrecht ist wohl sehr interessant, aber auch kompliziert. Einfacher, handfester, aber staatspolitisch nicht weniger bedeutungsvoll ist der in unserem Volk tiefverwurzelte Neutralitätsgedanke für das landesinnere Gleichgewicht.
Einmal belegt die Geschichte offensichtlich die Wirksamkeit der Bewaffneten Neutralität nach aussen seit Menschengedenken. Da gibt es nichts zu glauben, man kann es wissen. Diese Erkenntnis ist tief im Volksbewusstsein eingeprägt und daher geeignet, das Selbstvertrauen auch in fast aussichtslosen Situationen zu stärken. Als Bestandteil der Eidgenössischen Gesinnung überlagert sie die zentrifugalen Kräfte, fördert über alle Differenzen hinweg das Zusammengehörigkeitsgefühl und erlaubt eine tragfähige Identifikation mit unserer Staatsidee . Dabei spielen Analogieschlüsse anhand geschichtlicher Vergleiche eine bedeutende Rolle. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn wir uns im Dreissigjährigen Krieg nicht neutral erklärt hätten und sich unversehens Protestanten und Katholiken als Angehörige der beiden verfeindeten Lager gegenübergestanden wären. Kaum vorstellbar, was wäre, wenn wir 1848 das Paktangebot des italienischen Königs Carlo Alberto gegen Oesterreich unter Preisgabe der Neutralität angenommen und als Folge das Tessin verloren hätten. Sehr gefährlich für unser Land wäre es gewesen, wenn wir während des Ersten Weltkrieges nicht auf Mahner wie Carl Spitteler gehört und die nach Sprachgebieten geteilten kulturbedingten Sympathien für die jeweiligen ausländischen Nachbarn höher eingestuft hätten als die Eidgenössische Gesinnung . Katastrophal, wenn wir rechtzeitig, wie die Deutschfreundlichen meinten, den Anschluss an Hitlers Reich gesucht hätten (!).
Zweitens bildet unsere Neutralität das beste Elixier gegen eine interne Zerreissprobe infolge eines Zerwürfnisses unter zwei Nachbarstaaten. Das schweizerische Abseitsstehen, die Position unseres Staates als Unparteiischer, ermöglicht dem Einzelnen die Erfüllung seines Rechtes auf Gesinnungsfreiheit und zudem kann auf diese Weise die drohende Gefährdung der inneren Einheit durch eine staatliche Begünstigung der einen oder anderen Partei vermieden werden.
Drittens erlaubt unsere Neutralität durch ihre innenpolitische Wirkung eine, wenn vielleicht auch bescheidene, europäische Klammerfunktion , indem dadurch die Dienstleistung der Schweiz als Kulturbrücke zwischen unseren Sprachgebieten einerseits und den entsprechenden Nachbarländern anderseits, auch während europäischen Konfliktsituationen möglich bleibt.
Gerade dieser dritte Aspekt zeigt in aller Deutlichkeit, wie typisch europäisch unser Land ist. Stellen wir uns vor was wäre, wenn die europäischen Staaten den von Churchill in seiner Züricherrede 1946 geäusserten Vorschlag zu Herzen genommen hätten, das neue Europa entsprechend dem Modell Schweiz aufzubauen! Und nehmen wir an, die EU würde auf Dürrenmatt hören, wenn er sagt, die Schweiz müsse nicht europäisch, Europa müsse vielmehr schweizerisch werden! Die EU würde den Maastrichterbeschluss, dem Grundsatz der Subsidiarität zu folgen, in die Tat umsetzen, De Gaulles Wunsch nach einem Europa der Vaterländer erfüllen, auf jedes zentralistische Machtgehabe verzichten und nur regeln, was im Interesse aller Europäer geregelt werden muss. Alle europäischen Staaten würden sich neutral erklären, ihre Armeen auf Verteidigungsstärke reduzieren und auch auf militärischem Gebiet nur gemeinsam lösen, wozu das einzelne Land nicht in der Lage ist, die Fernaufklärung mittels Satellit etwa oder den Bau von Kampfflugzeugen. Doch ich träume. Die EU entwickelt sich in entgegengesetzter Richtung. Und Delors sagte, für direktdemokratische und neutrale Staaten sei in der EU auf die Dauer kein Platz. Darum ist, solange die EU ihr Demokratieverständnis nicht ändert, die Beitrittsfrage für uns vom Tisch, vermutlich auf Jahrzehnte. Wir können und wollen uns mit einer bloss repräsentativen Demokratie nicht zufrieden geben und sind nicht bereit, auf unsere bewährte Bewaffnete Neutralität zu verzichten.
Dies bedeutet, dass wir weiterhin, wie bereits zur Zeit des braunen Schattens, die Rolle des aus Brüsselersicht ungeliebten direktdemokratischen und neutralen Stachelschweins spielen, verbale Angriffe parieren und kritische Fragen den Sachverhalt erklärend beantworten müssen. Auch was unser Neutralitätsverständnis anbetrifft.
Und noch stärker als bisher sehe ich gerade die Neutralitätsfrage auch intern zum Streitobjekt werden. Nicht der eigentlichen Sache wegen. Der Inhalt unserer Neutralität interessiert die massgeblichen Verfechter der Political Correctness schon gar nicht mehr, weil sie die Armee ohnehin bereits abgeschafft sehen, nein, sondern weil die Neutralitätsfrage bei einem Grossteil unseres Volkes einen kräftigen Hemmschuh gegen den obrigkeitlich geplanten EU-Beitritt darstellt. So sind denn die hauptsächlich vorgebrachten Argumente für einen Verzicht auf unsere Neutralität meist schal und zeugen oft von wenig staatspolitischem Instinkt.
Neutralitätsgegner argumentieren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall der Mauer sei unsere Neutralität, welche vorher durchaus zweckmässig gewesen sein möge, sinnlos und damit hinfällig geworden. Nach meiner Beurteilung verhält es sich aber eher umgekehrt. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als die UdSSR noch eindeutig die Weltherrschaft anstrebte, der freie Westen sich zu einer Phalanx gegen die kommunistische Gefahr zusammenraufen musste, nachdem die KP Schweiz als Folge der kommunistischen Eskapaden in Berlin , Prag und Budapest praktisch bedeutungslos wurde und damit innenpolitisch kein Problem mehr darstellte, hätte man vielleicht eine partielle Aufgabe unserer Neutralität diskutieren können. Seit den Ereignissen von 1989 jedoch ist die Bedeutung der Neutralität markant angestiegen. Der Abzug der Sowjets hat in Westeuropa ein Vakuum und damit eine vermehrte Unsicherheit erzeugt. Als Beispiel möglicher Folgen ist der jugoslawische Bürgerkrieg zu nennen. Und die zentralistischen Bestrebungen der EU erzeugen in den betroffenen Staaten als Reaktion starke nationale Bewegungen. Während die EU die Grenzkontrollen aufheben, die Freizügigkeit gewähren, den Euro einführen und die politische Einheit verwirklichen will, gedeihen europaweit alte und neue Bestrebungen zur Selbständigkeit, zur Schaffung überblickbarer Räume, so in Nordirland, in Belgien, im französisch-spanischen Grenzraum, in Spanien, Korsika, Norditalien und im Südtirol. Die Tschechen und Slowaken haben sich bereits getrennt. Zudem hat die Wiedervereinigung der beiden deutschen Teile das Kräfteverhältnis in Europa massgeblich gestört. Die Folgen der Wirtschaftskrise, die Währungsunion oder Immigrationsprobleme können das gute Einvernehmen zwischen unseren Nachbarstaaten gefährden. Gerade in einem solchen Fall könnte unsere Neutralität, auch und gerade innenpolitisch, wieder entscheidende Bedeutung gewinnen.
Die Neutralitätsfrage lässt sich nicht an Tagesaktualitäten messen, sie will langfristig beurteilt sein. Man bedenke: Hitler hat nach 1933 innert drei Jahren eine allen andern überlegene Armee aus dem Boden gestampft. Der Aufbau einer Milizarmee nach unserem Muster dagegen erfordert zwanzig bis dreissig Jahre. Und wer hätte 1985 geglaubt, dass 1992 UdSSR und Mauer nicht mehr sein würden?
Gehen wir sorgsam um mit unserer Neutralität , dieser einmaligen Kostbarkeit und bedeutenden Säule der Staatsidee Schweiz !