Vom Geist der Gründer

Michail Gorbatschow verglich das neue Europa mit einem Haus mit vielen Zimmern. Wir reden vom Schweizerhaus, wenn wir unseren nationalen Lebensraum in seiner Gesamtheit meinen. Mir gefallen diese Bilder, lassen sie sich doch tiefsinnig weiterentwickeln. Fast jeder noch so unterschiedliche Gedanke um den Begriff „Haus“ gibt eine Metapher her für eine Facette unseres Staatsgebildes. Ueberlegen wir: Bauplan, Fundament, Dach, Türe, Fenster, Blumenschmuck, Feuerlöscher, Ver­sicherung, Ofen, Windfang, Unterhalt, um nur einige, kunterbunt gereiht, zu nennen. Manche mieten in einem ganz normalen Haus ein Zimmer, nehmen es so wie es ist, möblieren es wie sie wollen oder vermögen und geniessen das Leben. Oft träumen sie davon, ein eigenes Haus zu bauen. Nach eigenen Vorstellungen, genau so, wie man es haben möchte, fehlerfrei. Aber nur wenige können sich diesen Wunsch erfüllen. Andere bewohnen ein bestehendes, vielleicht sehr altes Haus, mit all seinem Charme, aber auch mit veralteten Einrichtungen, gar mit undichtem Dach und machen sich daran, das ehrwürdige Gebäude stilgerecht zu renovieren. Das wird Jahre dauern. Und eines späteren Tages werden sie feststellen, dass ein solches Haus eine ewige Baustelle bildet, dass laufend etwas zu flicken, zu ersetzen oder zu ändern sich aufdrängt. Wer das Glück hat, ein solches Haus sein eigen zu nennen, wird bald erkennen, wie behaglich es sich darin wohnen lässt, wie einem der Geist der früheren Bewohner auf Schritt und Tritt begegnet. Welche Befriedigung die Unterhaltsarbeiten verschaffen und wie der Charakter des Hauses allmählich auf die jeweiligen Bewohner abfärbt. So erlebe ich unser weit über zweihundert Jahre altes Haus, das wir vor vielen Jahren nach unserem Geschmack umgebaut haben, laufend unterhalten und schrittweise erneuern. Als ältestes Haus des Quartiers steht es heute inmitten einer modernen Ueberbauung, sein unverwechselbarer Charakter und sein Charme erfreuen uns und die Passanten. Es bildet einen Sonderfall, einen glücklichen. So sehe ich auch unser Schweizerhaus.

Wenn wir nach dem Bauplan und dem Fundament dieses Schweizerhauses fragen, müssen wir den Bundesbrief von Anfang August 1291 ansehen. Ich zitiere die Uebersetzung der lateinischen Urfassung, welche im Bundesbriefarchiv in Schwyz aufliegt, in der Annahme, dass dieser wichtige Text möglicher­weise nicht allen bekannt ist:

„In Gottes Namen, Amen.“

Das öffentliche Ansehen und Wohl erfordert, dass Friedens­ordnungen dauernde Geltung gegeben werde.

Darum haben alle Leute der Talschaft Uri, die Gesamtheit des Tales Schwyz und die Gemeinde der Leute der unteren Talschaft von Unterwalden im Hinblick auf die Arglist der Zeit zu ihrem besseren Schutz und zu ihrer Erhaltung einander Beistand, Rat und Förderung mit Leib und Gut innerhalb ihrer Täler und ausserhalb nach ihrem ganzen Vermögen zugesagt gegen alle und jeden, die ihnen oder jemand aus ihnen Gewalt oder Unrecht an Leib und Gut antun.

Und auf jeden Fall hat jede Gemeinde der andern Beistand auf eigene Kosten zur Abwehr und Vergeltung von böswilligem Angriff und Unrecht eidlich gelobt in Erneuerung des alten, eidlich bekräftigten Bundes, jedoch in der Weise, dass jeder nach seinem Stand seinem Herrn geziemend dienen soll.

Wir haben auch einhellig gelobt und festgesetzt, dass wir in den Tälern durchaus keinen Richter, der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landsmann ist, annehmen sollen.

Entsteht Streit unter Eidgenossen, so sollen die Einsichtigen unter ihnen vermitteln und dem Teil, der den Spruch zurück­weist, die andern entgegentreten.

Vor allem ist bestimmt, dass, wer einen andern böswillig, ohne Schuld, tötet, wenn er nicht seine Unschuld erweisen kann, darum sein Leben verlieren soll und, falls er entwichen ist, niemals zurückkehren darf. Wer ihn aufnimmt und schützt, ist aus dem Land zu verweisen, bis ihn die Eidgenossen zurück­rufen.

Schädigt einer einen Eidgenossen durch Brand, so darf er nimmer­mehr als Landsmann geachtet werden, und wer ihn in den Tälern hegt und schützt, ist dem Geschädigten ersatz­pflichtig.

Wer einen Eidgenossen beraubt oder irgendwie schädigt, dessen Gut in den Tälern soll für den Schadenersatz haften.

Niemand solle einen andern, ausser einen anerkannten Schuldner oder Bürgen, pfänden und auch dann nur mit Erlaubnis seines Richters.

Im übrigen soll jeder seinem Richter gehorchen und, wo nötig, den Richter im Tal, vor dem er zu antworten hat, be­zeichnen.

Gehorcht einer dem Gericht nicht und es kommt ein Eidgenosse dadurch zu Schaden, so haben alle andern jenen zur Genugtuung anzuhalten.

Entsteht Krieg oder Zwietracht zwischen Eidgenossen und will ein Teil sich dem Rechtsspruch oder der Genugtuung entziehen, so sind die Eidgenossen gehalten, den andern zu schützen.

Diese Ordnungen sollen, so Gott will, ewigen Bestand haben. Zu Urkund dessen ist auf Verlangen der Vorgenannten diese Urkunde gefertigt und mit den Siegeln der drei vorgenannten Gemeinden und Täler bekräftigt worden. Geschehen im Jahre des Herrn 1291 zu Anfang des Monats August.“

Lediglich dreizehn knappe Thesen bilden damit die geistige Grundlage für die künftige Entwicklung der Eidgenossenschaft, beschlossen von allen Leuten der Täler und Gemeinden, freiwillig, weil sie es so wollten. Geregelt wurde nur, was unbedingt nötig war, Subsidiaritätsprinzip pur sozusagen. Wenn wir vergleichen mit ähnlichen Urkunden, etwa mit der „Magna Charta“ von 1215, der Grundlage für das englische Recht, sehen wir, dass es sich dort im wesentlichen um eine Regelung der Rechte zwischen Adeligen handelte, das Volk wurde nicht gefragt. Während unsere Verfassung mit den Worten beginnt: Im Namen des Allmächtigen... und jene der USA mit: Wir, das Volk..., lautet die Präambel der EG/EU-Grundpapiere: Seine Majestät der König der Belgier, Ihre Majestät die Königin von Dänemark, Seine Exzellenz der Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Seine Majestät der König von Spanien...(Es folgen in alphabetischer Reihenfolge die Staatsoberhäupter der übrigen EG/EU-Staaten). So unterschiedlich weht der Geist in den Gründungsurkunden der verschiedenen politischen Gebilde! In den alten Urkunden der Eidgenossen wird deutlich: Nicht der Deutsche Kaiser oder der König von Frankreich gab ihnen eine Verfassung. Nicht Staatsoberhäupter beschlossen ohne das Volk zu fragen. Nein, wie es Schiller richtig gesehen hat, alle Leute der Täler und Gemeinden von Uri, Schwyz und Unterwalden sagten, was sie wollten:

„WIR WOLLEN SEIN EIN EINZIG VOLK VON BRUEDERN, IN KEINER NOT UNS TRENNEN UND GEFAHR. WIR WOLLEN FREI SEIN WIE DIE VAETER WAREN, EHER DEN TOD ALS IN DER KNECHTSCHAFT LEBEN. WIR WOLLEN TRAUEN AUF DEN HOECHSTEN GOTT UND UNS NICHT FUERCHTEN VOR DER MACHT DER MENSCHEN“

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