Währung, Wirtschaft und die weite Welt

Obschon Währung , Wirtschaft und die weite Welt in der veröffentlichten Meinung immer wieder Schlagzeilen machen, standen sie in unseren bisherigen Betrachtungen nicht im Vordergrund. Das soll nun aber nicht heissen, dass wir sie als staatspolitisch unwichtig einstufen. Aber sie sind nicht das Mass aller Dinge und hier nur insoweit interessant, als sie für das Erreichen unserer Staatsziele von Bedeutung sind. Wir erinnern uns an die Diskussion um den EWR-Vertrag, von Gegnern und Befürwortern auf völlig verschiedenen Ebenen geführt. Es zeigte sich, dass viele unserer Mitbürger allein opportunistische Gesichtspunkte wogen und daher bereit waren, um des Profits willen staatstragende Teile unserer Souveränität   zu opfern, sich aus wirtschaftlichen Gründen auf einen Kolonialvertrag   einzu­lassen. Währung, Wirtschaft und die weite Welt bilden jedoch nicht das Ziel der Eidgenossenschaft , sie sind lediglich Bestandteil oder Betriebsstoff des Vehikels auf dem Weg zu einem würdigen Leben. Währung und Wirtschaft sind für den Menschen da, nicht umgekehrt. Trotzdem wäre es verwerflich, ihre grosse Bedeutung in unserem staatlichen Leben bestreiten zu wollen.

Wir erinnern uns: Ein freies Volk braucht nebst einer Fahne und einer Armee   auch eine eigene Währung.   Leicht ironisch und auf uns bezogen: Die hehre Schweizerfahne,   die stolze Milizarmee, den lieben Schweizerfranken.   Ueber Fahne und Armee als Säulen unserer Staatsidee   haben wir früher ge­sprochen. Die Betrachtung unseres Geldes führt uns in ein uraltes und zugleich hochaktuelles Spannungsfeld. Geld lässt keinen kalt.

Wenn es nur das verfluchte (fehlende) Geld nicht gäbe möchte man ausrufen, wenn Ende Lohn noch eine Menge Monat übrig bleibt. Und wir verachten den Neureichen, welchem der Tanz ums goldene Kalb zum Lebensinhalt wird, sind selber jedoch kaum besser. Alle schimpfen über das Geld, aber alle möchten genug davon haben. Und wir achten genau darauf, wie andere damit umgehen. Allerdings wissen wir nur zu gut, dass nicht das liebe Geld an sich das Problem bildet, sondern unser Verhältnis dazu. Aehnlich wie die einzelnen Menschen verhalten sich in diesen Dingen auch die Staaten zueinander. Wenn die Berichterstatter wahr berichten, kennt die ganze Welt den Schweizerfranken , aber kaum unser Land, das oft mit Schweden   verwechselt werde. Es scheint also schon so zu sein, dass nicht nur wir selbst Mühe bekunden, unsere Währung   objektiv zu betrachten. Fragen wir uns daher ganz pragmatisch: Welche Bedeutung besitzt unsere Währung für unser Staatsverständnis und wie sind die Zusammenhänge zu erklären.

Recht hat wohl schon ein bisschen, wer behauptet, wir Schweizer seien allesamt Bänkler und geizige Batzenklemmer. Das liegt in unserer Natur und hat Tradition. Wir erinnern uns, auf der Alpennordseite   kann nur überleben, wer willens und fähig ist, für die frostigen Wintermonate und mögliche karge Zeiten Vorräte anzulegen. Vorräte, welche nicht verschimmeln. Auch Geld, welches das vielseitigste Tauschmittel darstellt. Sparen bedeutet uns daher nicht Spielerei, sondern Ueberlebens­strategie, ist nicht apriori unmoralisch, vielmehr vorerst not­wendig. Und wir stehen dazu. Währung   und Banken   gehören daher so selbstverständlich zu unserem Land wie der Speicher zum Bauernhaus und das Kässeli zum Dorfverein. Sparen ist bei uns auch seit je Staatsauftrag. Schon lange bevor die Gold­reserven   unserer Nationalbank   Weltaufmerksamkeit erregten, galten unsere alteidgenössischen Orte und Städte als reich und wurden selbst von fürstlichen Häusern als Geldleiher geschätzt. Behäbig seien unsere Städte, Dörfer, Bauernhöfe, die Schweiz   insgesamt. Hinter behäbig verbirgt sich das Wort Haben, im schweizerischen Wortgebrauch bedeutet es wohlhabend. Wohlhabend sein bedeutet nicht dasselbe wie reich sein. Wohlhabend sein heisst für mich, keinen Mangel leiden, reich sein dagegen im Ueberfluss leben. Wohlhabend sein tönt positiv, anständig, gut bürgerlich, reich dagegen leicht anrüchig. Wohl­haben­heit vermag man zu erarbeiten, hätte sie dann also im wahren Sinn des Wortes verdient. Reichtum dagegen ist suspekt. So viel kann einer gar nicht verdienen, sagt der Volksmund. Geerbt, kassiert, ergaunert? Und zur Verteidigung: Was heisst schon reich? Geld stinkt nicht. Wer hat, muss nicht betteln gehen.

Wer zieht die Grenze zwischen Wohlhabenheit und Reichtum? Als Bürger dieses Staates schäme ich mich nicht, wenn wir als wohlhabendes Land bezeichnet werden. Dieser Zustand ist aber nicht vorrangiger Teil unserer Staatsidee . In der Bundesverfassung   1848/74 stand nämlich nichts von Wohlstand. Die als vierter Teilzweck erwähnte gemeinsame Wohlfahrt   meint wohl eher ein Leben in Würde . Ein wichtiger Pfeiler unserer Staatsidee ist aber trotzdem, unserer Behäbigkeit entsprechend, die Wertbeständigkeit des Schweizerfrankens, die solide Währung . Unsere Währung, gekoppelt mit der innenpolitischen Stabilität und dem militärischen Schutz des Landes, schenkte dem Finanzplatz   Schweiz   den guten Namen als Welttresor. Nicht der Reichtum ist Teil unserer Staatsidee, sondern die Solidität unserer Währung. Und diese bleibt nur so lange erhalten, als eine Mehrheit unseres Volkes für innere Stabilität und Verteidigungs­bereitschaft eintritt. Das sollten auch unsere Reichen und die Banken   bedenken. Unsere Staatsidee geht davon aus, dass auch Reiche und die Vertreter der Wirtschaft Eidgenössischer Gesinnung   verpflichtet bleiben. Tun sie es nicht, wird sie das Volk nicht mehr akzeptieren, mindestens aber verachten. Unsere Staatsidee, wie sie sich, nach der läuternden Prüfung und Reifung in der Krisen- und Kriegszeit   um 1950 auf ihrem vorläufigen Höhepunkt darbot, stellte hohe ethische Anforder­ungen an jene, die über Macht verfügen, sei diese nun auf staatliche, politische oder wirtschaftliche Kraft gegründet. Das Er­lebnis, die schwierigen Jahre gemeinsam gemeistert zu haben, liess einen auf gegenseitigem Vertrauen gründenden und in die Herzen geschriebenen, auf das künftige Gesellschaftsleben aus­ge­richteten Kodex entstehen und in unsere Staatsidee einfliessen, welcher für die Nachkriegszeit   zu grossen Hoffnungen be­rechtigte.

Sind denn materielle Zielsetzungen und Eidgenössische Gesinnung   überhaupt vereinbar? Dies würde ja bedeuten, dass der Handelnde seine Entscheide nicht nur an der momentanen Nützlichkeit misst, sondern auch die Folgen für die Allgemein­heit, die Mitbetroffenen, die Zukunft berücksichtigt. Viele politisch oder wirtschaftlich bedeutende Männer haben dies in der Vergangenheit getan. Ich stehe als Zeuge, habe solche Leute erlebt. Leute, welche ihren Ueberfluss mit den Schwächeren teilten, das Gemeinwohl förderten, als Kunstmäzene wirkten und einen Teil ihrer Kraft in unseren Milizsystemen einsetzten. Auch ich muss heute aber leider feststellen, dass da einiges Gold abzublättern droht. Doch davon später mehr.

Diese letzten Gedanken haben uns bereits zum Problemkreis Wirtschaft geführt. Der einleitende Satz zu Beginn der ersten Lektion im Fach Wirtschaftsgeographie wird meist lauten: „Die Schweiz   ist ein rohstoffarmes Land“. Verglichen etwa mit Kuwait, wo der sprudelnde Rohstoff Mineralöl die fast ausschliessliche Lebensgrundlage bildet, sind wir buchstäblich arm dran. Wenn ich über unsere wirtschaftliche Ausgangslage nachsinniere, fällt mir jene Kreuzzug-Ballade ein, wo es heisst: „Als Kaiser Rotbart lobesam ins heilge Land gezogen kam, da musst er mit dem frommen Heer durch ein Gebirge wüst und leer, da litt gar mancher grosse Not, viel Steine gabs und wenig Brot.“ Wüst und leer ist unser Land nicht, aber der letzte Teil stimmt: Viel Steine gabs und wenig Brot. Dieser Umstand hat das Leben unserer Vorfahren beeinflusst und auf unseren Volkscharakter abgefärbt. Vier wesentliche Erleichterungen einer erfolgreichen wirtschaft­lichen Entfaltung fehlten uns seit je: Rohstoffe , Kolonien , Macht und Verbündete.

Aus der Not des Rohstoffarmen ist im Verlauf der Zeit eine Philosophie entstanden: Da wir nichts haben, müssen wir aus allem etwas machen. Wertschöpfung heisst hier das erste Zauber­wort. Gediegen ausgedrückt könnte man es auch Ver­edelung nennen. Aus Eisen mach Uhren, aus Bergluft mach Tourismus , aus Gletscherwasser mach Strom, aus Topographie mach Verhandlungstrümpfe, aus Köpfchen mach Geld, aus Bildung   mach Erfolg. Klima und Volkscharakter brachten ein Heer von fleissigen Machern hervor. Fachleute, welche wissen, wie man Armut   in Reichtum wandelt, einen Nachteil zum Vorteil nutzt. Die Erkenntnis, dass auf der Alpennordseite   nur der Tüchtige und Fleissige überleben kann.

Viele der mit uns in Konkurrenz stehenden Industriestaaten verfügten während der letzten Jahrhunderte, im Zeitalter des Imperialismus, über Kolonialmärkte   fast unbeschränkten Aus­masses, in welche sie auch qualitativ weniger hochstehende Güter in grossen Mengen exportieren konnten. Oder sie besassen oder besitzen die Macht, sich neue Märkte zu erschliessen. Uns fehlen solche Voraussetzungen. Der Umstand, dass wir keine Altlasten aus der Kolonialzeit   mitzuschleppen haben, unsere Neutralität   und die von unserem Boden ausgehende humanitäre Tätigkeit verschaffen uns zwar einige ausgleichende Sympathien, doch das genügt nicht. Wir können den Marktnachteil nur dadurch ausgleichen, dass wir besser sind. Qualität heisst daher das zweite Zauberwort.

Zu den Kolonialmächten zählen oder nicht war für die gesellschaftliche Entwicklung der europäischen Staaten von entscheidender Bedeutung. Die Seefahrernationen   Belgien,   Dänemark, England,   Frankreich,   Holland,   Italien,   Portugal, Spanien und in allerdings weit geringerem Masse und viel später Deutschland   haben während Jahrhunderten über ihre Kolonien   praktisch die ganze Welt beherrscht. Sie haben die über­seeischen Gebiete ausgebeutet, das heisst, sie haben sich während Generationen Waren und Dienstleistungen angeeignet, ohne dafür den entsprechenden Preis zu bezahlen. Das bedeutet, dass der betreffenden Kolonialmacht mehr Ressourcen   zur Verfügung standen als erarbeitet wurden. Da es sich dabei in der Regel - Frankreich 1848 bis 1852 und seit 1871 und die USA bilden Ausnahmen - um Monarchien handelte, floss die weit­gehend unverdiente Wertschöpfung in die Kassen der europäischen Königshäuser, welche die Weiterverteilung im Kreise der Begünstigten, also unter ihren Günstlingen, vor­nahmen. In all diesen Nationen gab und gibt es daher noch heute Familien   und andere Personenkreise, welche über unermessliche unverdiente Vermögen verfügten oder noch verfügen. Schichten, welche während Jahrhunderten nie das tägliche Brot selber verdienen mussten. Staaten, welche immer mehr ausgeben konnten, als im Lande erarbeitet wurde. Auch nach der Entlassung der Kolonien in die Freiheit blieben die Abhängigkeiten bestehen oder wurden noch ausgebaut. Mit dem Köder, unsere Zivilisation nachzuahmen, verleitete man die jungen unerfahrenen Staaten zur Aufnahme riesiger verzinsbarer Kredite. Folge dieser durch reiche Länder, Hochfinanz und Weltkonzerne so weitergeführten Ausbeutung ist eine fort­schreitende Verarmung ganzer Entwicklungsgebiete. Bei internen Machtkämpfen wurde oft von aussen eingegriffen, vor allem dann, wenn imperialistische Interessen im Spiel waren, all zu oft und von uns kaum bemerkt unter einem ideologischen Deckmäntelchen. Heute steigt die Zahl der von den Industrie­mächten bevormundeten Staaten, welche sich gegen die fremde Beeinflussung, Fesseln und Ausbeutung wehren und sich auf ihre eigene Kultur besinnen. Und Europa wird lernen müssen, aus eigenen Mitteln zu leben. Dies wird in den vom Ueberfluss verwöhnten Mutterländern zu harten Verteilkämpfen und damit zu schwerwiegenden sozialen Problemen führen. Diese, tonan­gebend in der EU , versuchen verständlicherweise das drohende Nullwachstum zu verhindern, wenigstens aber zu verzögern. Als neue Mitglieder werden daher vor allem Nettozahler wie die Schweiz   und neue Märkte in Osteuropa gesucht.

Anders als im Bereich der Kolonialmächte   verlief die Ent­wicklung im Binnenland Schweiz . Als solches sind wir seit Marignano   nicht mehr in Versuchung geraten Kolonialmacht spielen zu wollen. Die naheliegende Vorstellung, Kolonisation zu betreiben sei ohnehin Seefahrernationen   vorbehalten, wäre aber falsch. Einem modernen terrestrischen Kolonialismus frönen zur Zeit Russland   in seinen Randgebieten und Israel in Palästina. Wir haben solchen Gelüsten seit Jahrhunderten widerstanden und dafür den entsprechenden Preis bezahlt. Im Gegensatz zu den Kolonialmächten blieben wir lange ein armes Land, weil wir nur über die aus eigener Kraft geschöpften Mittel verfügen konnten. Dementsprechend verlief bei uns die Entwicklung Richtung Sozialstaat   massvoller als anderswo. Wenn sich auch unsere sozialistischen Bewegungen in Anlehnung an Vorgänge im Ausland in der Zeit um den Ersten Weltkrieg klassen­kämpferisch gaben, führten die folgenden Krisen- und Kriegsjahre die verschiedenen Volksschichten näher zusammen. Die Einsicht wuchs, dass bei uns nur verteilt werden kann, was zuerst gemeinsam erwirtschaftet worden ist. Die Folge waren die Abkehr der Sozialdemokraten von Umsturzgedanken und der legendäre Arbeitsfrieden,   welchem wir zu einem schönen Teil die Wirtschaftsblüte der Nachkriegsjahre verdanken. Die über Jahrzehnte sorgfältig gepflegte Gesprächskultur zwischen Arbeit­gebern und Arbeitnehmern hat sich so zu einem nicht mehr wegzudenkenden Pfeiler unserer Staatsidee   entwickelt.

Bleibt noch der Nachteil der fehlenden Verbündeten. Wir standen immer allein, schon seit Beginn der Absetzbewegung der ersten Eidgenossen. Namentlich seit dem Verzicht Maximilians auf unser Hoheitsgebiet im Jahre 1499, standen wir als direkt- demokratisches Gebilde, von demokratiefeindlichen Monarchien umgeben, allein da. Unsere heutige Lage ist ähnlich. Wenn wir unserer Staatsidee   treu bleiben wollen, sind wir auch künftig der Sonderfall Schweiz . Freiheit hat ihren Preis. Um nicht ausschliesslich auf die oft neidischen Nachbarn angewiesen zu sein, suchen wir für unsere Produkte und Dienstleistungen Kunden in der ganzen Welt. Weltoffenheit   ist daher das dritte Zauberwort. Und wer nun sagt, dieser Umstand bedinge den EU-Beitritt, liegt falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Die EU   will Europa gegenüber anderen Handelsblöcken abschotten, die Handelspolitik einheitlich von Brüssel   aus gestalten. Wir aber wollen, weil wir müssen, auch zum Nutzen Europas, weltoffen bleiben.

Weltoffenheit   liegt zutiefst in unserer Natur. Sie resultiert aus der ewigen Sehnsucht des in von Salis   Kleinwelt Schweiz   Lebenden nach Weite, nach dem Süden, nach dem Meer. Ihr kennt die Geschichte der Helvetier   nicht? In der Zeit von Christi Geburt lebten diese in unserem heutigen Mittelland mehr schlecht als recht, zudem ständig bedroht von den Teutonen , welche immer wieder über den Rhein   setzten und plündernd in ihre Dörfer einfielen. Unter Führung von Diviko   zogen sie daher gegen Westen, kamen den Römern ins Gehege, schlugen deren Konsul Cassius Longinus und kehrten mit reicher Beute heim. Kaum fünfzig Jahre später, gestützt auf die Auswanderungspläne von Orgetorix   und angemacht durch die schwärmerischen Frankreich schilderungen der Divikoveteranen, entschlossen sie sich zur Auswanderung, verbrannten ihre Dörfer und zogen südwestwärts, wo sie neuerdings auf die Römer stiessen. Bei Bibrakte   wurden sie von Julius Cäsar geschlagen und kehrten reumütig in ihre Heimat zurück, diesmal als römische Untertanen. Seither hat sich bei uns manches geändert, geblieben aber ist die zehrende Sehnsucht nach dem Süden. Diese mag nebst der wirtschaftlichen Not mitgespielt haben, wenn Jahrhunderte später die Reisläuferei   zum Blühen kam und überdurchschnittlich viele junge Menschen dem hiesigen harten Leben entfliehend in klimatisch angenehmere Gebiete aus­wanderten. Geblieben ist auch die Schimpferei über das Leben in der Schweiz, die immer wieder offen ausgesprochene Drohung, dieses Land demnächst endgültig zu verlassen. Die Hass-Liebe zu unserer Heimat, welche uns zu geradezu schizophrenen Verhaltensweisen führt: Wir wollen in die Ferne, kaum dort, empfinden wir Heimweh. Wir wandern enttäuscht aus, um am neuen Ort umgehend zu versuchen, eine Kopie des verlassenen Landes aufzubauen, New Bern   etwa. Wir gründen über die ganze Welt verstreut Schweizerclubs,   Schweizer­schulen,   Schützen­vereine. Wir haben genug vom Alltag in dieser Enge und freuen uns in kaum zähmbarer Vorfreude auf bevorstehende Ferien am Meer. Wo wir dann unsere Direkte Demokratie   und die Neutralität   vehement verteidigen, welche wir, noch daheim, doch ernstlich in Zweifel gezogen haben.

Aber gerade in diesem eigenartigen Verhältnis sehe ich das Hauptmerkmal der Beziehungen zwischen der engräumigen Schweiz   und der weiten Welt. Viele Schweizer werden erst im Ausland zu Eidgenossen. Es wird wohl so sein, dass die ent­scheidenden Wesensmerkmale unseres Staatswesens auf Distanz und im Vergleich mit anderen Ländern markanter erkennbar werden. So ist es nicht erstaunlich, dass sich Auslandschweizer   oft als besonders heimatliebend erweisen. Viele behalten ihr Schweizer Bürgerrecht   über Generationen, besuchen ihre Heimat regelmässig, halten unsere Traditionen aufrecht, lassen die Kinder hier ausbilden und schicken ihre Söhne daheim in die Rekrutenschule. Wesensart und berufliches Können machen die Auslandschweizer zu wertvollen Botschaftern unseres Landes. Umgekehrt finden die Auslandschweizer einen festen Platz in unserem Staatsbewusstsein und dementsprechend auch im gültigen Regelungswerk. Augenfällig wird die Verbindung zwischen den beiden Volksgruppen im In- und Ausland, wenn der amtierende Bundespräsident etwa in der 1.-Augustansprache in den Medien auch die im Ausland lebenden Miteidgenossen   direkt anspricht.

Heute gehört es fast zum guten Ton, von der Schweiz   mehr Weltoffenheit   zu fordern. Doch was heisst das eigentlich? Und wie wird Weltoffenheit gemessen? Aussenpolitik,   sichtbar inter­national präsent und tätig sein, mitreden, mit den andern den Frieden dort schützen wo er gefährdet ist, solidarisch sein, so hören wir.

Tatsächlich betrieb die Schweiz   bisher in der Regel keine eigentliche aktive Aussenpolitik.   Das ging schon aus der Be­zeich­nung des entsprechenden Departements hervor, es hiess Departement des Auessern oder des Auswärtigen, es war die Bundesstelle, welche sich mit Problemen mit dem Ausland beschäftigte, falls sich solche ergaben. Gesucht hat man sie nicht. Weil Aussenpolitik immer Machtpolitik ist, waren wir, seit Marignano , in dieser Beziehung zurückhaltend. Unser Verkehr mit dem Ausland richtete sich nach den Grundsätzen der Dauernden Neutralität , wir betrieben auch in Zeiten relativen Friedens Neutralitätspolitik . Was soll daran falsch, unmoralisch sein? Wäre es denn schlecht, wenn sich alle Staaten dauernd neutral verhalten würden? Unparteiisch, kein Einmischen, gute Dienste leisten, Humanität, Solidarität , echtes Asylrecht . Dafür standen und stehen wir. Traditionsgemäss, basierend auf unserem föderalistischen Denken, betrachten wir Weltoffenheit   nicht vorerst als Aufgabe des Bundes, sondern der Einzelperson, von privaten Organisationen , der Wirtschaft. Nicht vorrangig als Tanz auf dem politischen Parkett (!).

Wenn wir die gesamte staatliche und private internationale Präsenz aufrechnen, stehen wir proportional gesehen nicht schlecht da. Im Gegenteil. Fremde   Dienste, Auswanderung, Welt­handel, neutrale Haltung, gute Dienste im diplomatischen Bereich, humanitäre Tätigkeit und Reiselust haben uns ein fast weltdeckendes Beziehungsnetz beschert, eine Weltoffenheit   die ihresgleichen sucht. Weltoffenheit und solidarisches Denken waren Teil der Eidgenössischen Gesinnung   und damit in unsere Staatsidee   eingebunden lange bevor „Political Correctness“-gesteuerte Kreise daraus einen Werbeslogan machten.

Wir sind stolz auf unsere Währung,   auf den Schweizer­franken,   welcher nur einmal seit Bestehen des Bundesstaates, als Folge der Weltwirtschaftskrise,   1936 abge­wertet werden musste. Auf politische Stabilität und Solidität, welche die Tätigkeit der für uns lebenswichtigen Bereiche Finanzplatz   und Wirtschaft ermöglichen. Auf den durch jahrelangen Arbeitsfrieden   dokumentierten pfleglichen Umgang der Sozialpartner,   der uns unseren Wohlstand ermöglichte. Auf unsere vielleicht eigen­willige, aber bewährte traditionelle Weltoffenheit .

Nicht Währung , Wirtschaft und Weltoffenheit   an sich, aber wie wir mit ihnen umgehen, ist Bestandteil unserer Staatsidee .

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