Wie wird man Eidgenosse?

Von einem jungen Bürger hörte ich den flotten Spruch: Mich hat niemand gefragt, ob ich Schweizer werden will! Wörtlich genommen, hat er natürlich recht. Aber was er damit sagen wollte, gefiel mir nicht. Aus seinen Worten klang Ablehnung, Abmeldung, Verweigerung . Auch Frustration, Mutlosigkeit, Enttäuschung und Verbitterung. Er könne mit alledem nichts anfangen, sagte er noch. Und Brot kaufen schon gar nicht. Gut sei, was ihm nütze. Die Schweiz   brauche er nicht. Ob es die Schweiz in der Zukunft noch geben werde, sei ihm nicht wichtig, darin stimme er mit Frau Dreifuss   überein (!).

Tatsächlich ist es so, dass ein Kind schweizerischer Eltern mit der Geburt das Gemeinde-, Kantons- und damit gleichzeitig auch das Schweizerbürgerrecht   zuerkannt erhält. Ohne zu fragen. Unbürokratisch und ohne Leistungsausweis. Wer hätte je gedacht, dass diese Regelung einmal nicht allen passen könnte. Schwerer haben es da die einbürgerungswilligen Ausländer. Je nach Ort haben sie eine Einkaufssumme zu entrichten und sich über Kenntnisse in Sprache, Geschichte und Staatskunde   auszuweisen. Wie es sich mit den verschiedenen Bürgerrechten verhält, haben wir früher erörtert. Wir wissen also, wie man Schweizer und Schweizerin wird. Hochschulen, Mittelschulen, Berufsschulen und Betriebe bilden Akademiker, Kaufleute, Beamte und Handwerker aus, doch wo und wie wird man Eidgenosse?

Eidgenossen und Eidgenossinnen? Eidgenossinnen? Das habe ich, soweit ich mich erinnern kann, noch nie gehört. Ich habe auch nicht festgestellt, dass diese Frage seit der Einführung des Frauenstimmrechts irgendwo erörtert worden wäre, wie über­haupt der Begriff Eidgenosse in den Massenmedien   kaum mehr anzutreffen ist, es sei denn in ironischem Sinn oder wenn von einem militärdienstpflichtigen, darum subventionierten und daher als Eidgenoss bezeichneten Pferd die Rede ist. Früher haben Magistraten ihre Reden an das Volk mit “Liebe Mit­eidgenossen“   eingeleitet, heute sind wir nur noch “Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“. Die Scheu, den Begriff Eid­genosse zu verwenden ist also weitverbreitet und hat sogar unsere obersten Behörden erfasst. Im Fall der Volksansprachen gibt es drei Erklärungen für diese Unterlassung. Erstens sollen auch die Nichteidgenossen, also Ausländer und jene, die sich nicht mehr als Eidgenossen betrachten, eingeschlossen werden, dann will man der Klippe mit den Eidgenossinnen ausweichen und drittens ist der Ausdruck nicht mehr modern, bei breiten Bevölkerungskreisen geradezu out, um es in dem der be­treffenden Denkart eigenen Jargon auszudrücken. Sonderbarer­weise oder vielleicht gerade in jenen Kreisen, wo man sich sonst als Genossen und Genossinnen anzusprechen pflegt, wollen viele nicht mehr Eidgenosse sein oder genannt werden.

Aber wir wollen ja nicht wissen, wie man als Eidgenosse aussteigt, sondern wie man Eidgenosse wird. Nun, gesetzlich ist dies meines Wissens nicht geregelt. Es steht also nirgends, alle Schweizer oder alle Einwohner dieses Landes seien Eidgenossen. Schweizer oder Schweizerin wird man durch Geburt oder Einbürgerung, Eidgenosse darf man sein, so man will, und zwingen kann man keinen.

Auch was ein Eidgenosse ist, findet man nirgends dekretiert. Auch das muss, oder darf, jede Generation für sich neu definieren. Grundlegendes kann man nachlesen etwa bei Johann Heinrich Pestalozzi , Henri Dunant , General Dufour , Gottfried Keller, Carl Hilty , Carl Spitteler oder bei Historikern wie Dr. Arnold Jaggi , Im Hof   oder Wolfgang von Wartburg . Sie alle lebten und wirkten wegweisend in verschiedenen gefahrvollen Zeiten. Sie sagten und schrieben entscheidende Worte. Pestalozzi zur Zeit Napoléons, Dufour vor und im Sonderbundskrieg , Keller im jungen Bundesstaat , Hilty bei der Verfassungsrevision, Spitteler im Ersten Weltkrieg und Jaggi im zweiten, später von Wartburg. Seither werden eidgenössisch denkende Historiker   immer seltener (!). Kein Wunder, es ging uns ja an die fünfzig Jahre gut, wohl zu gut.

Nach meiner Auffassung ist Eidgenosse, wer unsere Heimat liebt, die materielle und die geistige, an die Staatsidee   Schweiz   und damit an unsere Mission für Europa und die Welt glaubt, sein Leben auch auf die in der Verfassung genannten Bundes­ziele ausrichtet, in Eidgenössischer Gesinnung   mit Kraft als kritischer Mitstreiter an der Verwirklichung unserer Ideale mitarbeitet und notfalls bereit ist, sein Leben für das Vaterland   einzusetzen. Der Anspruch ist beträchtlich, gesamtheitlich, umfasst Kopf, Hand und Herz.

Bleibt die Frage: Wie kommt man dazu, Eidgenosse sein zu wollen? Ich sehe da drei Wege. Einmal durch Erziehung , dem Dichterwort folgend, dass im Hause beginnen muss, was leuchten soll im Vaterland . Das setzt voraus, dass in der Familie ein entsprechender Geist herrscht, die Kinder erzogen werden und nicht nur so heranwachsen, Vater und Mutter ihre Vorbildfunktion wahrnehmen und die Unterrichtung ihrer Nachkommen   in staatsbürgerlichen Fragen nicht einfach der Schule, der Strasse oder dem Fernsehen   überlassen, unserem heutigen schon gar nicht (!). Dieses scheint bereits seit Jahren, alles daran zu setzen, unseren Kindern den Stolz auf ihre Heimat und damit jeden Mut und jede Lebensfreude zu nehmen. Es verletzt damit die Konzession und ich kann in keiner Weise verstehen, dass die verantwortlichen Stellen dies zulassen.

Viele Schweizer und Schweizerinnen werden daher erst im Verlaufe des Lebens, sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg, aus Einsicht zu Eidgenossen. Dies kann auf mannigfaltige Weise geschehen. Durch persönliche Lebenserfahrungen, Beruf, Politik, Militär- oder Zivilschutzkarriere oder, was sehr häufig der Fall ist, durch einen Auslandaufenthalt. Oft braucht es den Vergleich mit den Verhältnissen in andern Ländern, um die Vorzüge unserer Staatsidee   schätzen zu lernen. Die erst später erfolgende Zuwendung zu staatspolitischen Fragen bewirkt, dass der prozentuale Anteil der Eidgenossen mit jeder Altersklasse steigt.

Der dritte Weg führt über die Einbürgerung. Ich kenne eine Reihe Mitbürger, welche vor Jahren aus verschiedenen Ecken der Welt zu uns kamen, hier heimisch wurden, unser gesellschaftliches und politisches Gefüge schätzen lernten und, nachdem sie sich einbürgern liessen, überzeugte Eidgenossen wurden. Dies unterstreicht, dass die Eidgenossenschaft   schon längst ein multikulturelles System bildet. Ob jung oder alt, gleich welcher Sprache, Religion und Partei, ob Zimmermann oder Professor, Thurgauer oder Walliser, Städter oder Bergler, ob arm oder reich, schwarz oder weiss, ob dies oder das, Eidgenosse kann jeder werden, vorausgesetzt, er ist auf dem Weg, die oben genannten Merkmale eines Eidgenossen zu erfüllen.

Soweit der Versuch, die wichtigsten Elemente der Staatsidee   Schweiz   zu umreissen. Eindrücklich ist dabei aufgefallen, wie gesamtheitlich sich unsere Staatsphilosophie darstellt. Diese ist nicht einfach ein Regierungsprogramm. Die Staatsidee Schweiz ist vielmehr der Lebensentwurf   eines Volkes, das über Jahrhunderte auf sich selbst gestellt den Weg zum Ueberleben finden musste und dadurch die Kraft entwickelte, ob verspottet oder bewundert, als Sonderfall Schweiz   seinen Platz im Herzen Europas zu behaupten.

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