Niemand wird unser politisches System verstehen, wenn er den schweizerischen Föderalismus nicht kennt. Ein föderativer Staat ist ein politisches Gebilde, in unserem Fall ein Bundesstaat , welcher seinen Gliedstaaten die grösstmögliche Selbständigkeit belässt, also nur zentral regelt, was im Interesse des Ganzen nicht regional verschieden gestaltet werden kann. Nach dem Prinzip des Föderalismus organisierte Staaten kennen wir nicht viele, neben der Schweiz vor allem die USA, Indien, Malaysia, Australien, Kanada, die Vereinigten arabischen Emirate und, unter unseren Nachbarn, die Bundesrepublik Deutschland. Aber da zeigen sich schon die ersten Unterschiede. Die USA entstanden zwar als freiwilliger Zusammenschluss der dreizehn Kolonien und später ist auch Texas als unabhängiger Staat beigetreten. Ein Blick auf die Landkarte zeigt aber, dass mancher amerikanische Staat buchstäblich auf dem Reissbrett entstanden ist.
Anders in der Schweiz. Hier haben sich fast ausschliesslich bestehende Staaten freiwillig zu einem grösseren Verbund zusammengeschlossen. Sie behielten ihre angestammten Grenzen und die Landesgrenze verläuft entlang den entsprechenden Kantonsgrenzen. Um beim Bild des Schweizerhauses zu bleiben: Die Zimmer des Hauses existierten eher als das Haus. Dieses entstand, indem vergleichsweise Containerzimmer neben- und aufeinander gestapelt wurden. Grosse und kleine, reiche und arme, alte und neue, verschieden in Sprache und Kultur. Aussen, als schützende Hülle, das Ganze zusammenfassend der Bund, so wie wir heute bestehende Häuser mit einer Aussenhülle als Wärmedämmung versehen. Man kann sich das Bild weiter ausmalen und fragen, wessen Zimmer sich auf der Sonnseite befindet, wer unten wohnt, im Flachland und wer oben, in den Bergen? Es finden sich auch gegen Westen, Norden und Osten Zimmer, solche mit und ohne Balkon. Die Bewohner des Hauses unterscheiden sich nach ihren Zimmern, hier sind sie daheim, die Räume sind ihrer Kultur entsprechend eingerichtet, selbständig bestimmen sie im Rahmen der Hausordnung ihre Zimmerordnung.
Die grösste Stärke des föderativen Staates liegt wohl darin, dass die Kantone und Gemeinden viel besser als der Zentralstaat in der Lage sind, den Lebensrahmen der Bürger auf die kulturellen, konfessionellen, sprachlichen, politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten der Gegend auszurichten und dies auch dann, und gerade dann, wenn sie einer Minderheit angehören. Die von der EU vage geplante Regionalisierung ist in unserem System längst verwirklicht. Die einzelnen Kantone spannen in gemeinsamen Interessenbereichen fallweise auf dem Konkordatsweg zusammen. Unsere Regelung entspricht auch dem korrekt angewendeten Subsidiaritätsprinzip und die Kantone achten peinlich darauf, dass ihre Kompetenzen nur im notwendigen Rahmen eingeschränkt werden. Sie tun dies mit Recht und eindeutig im Interesse der Bürger, sind doch Freiheit und direkte Demokratie im Kanton leichter lebbar als im grösseren, anonymeren Verbund. Man kennt sich je nach Grösse des Kantons noch mehr oder weniger persönlich, was bei eidgenössischen und kantonalen Wahlen eine bedeutende Rolle spielt. In den kleinsten Kantonen finden teilweise sogar noch Landsgemeinden statt, wo Wahlen und Sachfragen offen diskutiert werden können.
Auch wenn die Kantone im Laufe der Zeit wichtige Kompetenzen im Gesamtinteresse an den Bund abgetreten haben, verfügen sie noch immer über ihre staatliche Souveränität mit vielen charakteristischen Merkmalen wie Autonomie, Parlament, Regierung, Verwaltung, Gerichte, Finanz- und Steuer- und Schulhohheit sowie kantonale Truppen. Und das sechsundzwanzig Mal! Opportunisten mögen diesen auch geschichtlich bedingten Zustand als Luxus bezeichnen. Oekonomisch gesehen muss diese Regelung vermutlich schon unter der Kategorie Liebhabereien verbucht werden. Staatspolitisch behält sie aber grösste Bedeutung: Der Bund verfügt nur über die Macht, welche ihm von den Kantonen übertragen wird, gerade soviel wie er braucht. Die Kantone kontrollieren die Machtentwicklung auf Bundesebene fast eifersüchtig. Und sie können, wenn sie wollen und eine Volksmehrheit finden, Kompetenzen zurückholen. Diese Strukturierung der Staatsgewalt entspricht den weisen Forderungen von Bruder Klaus und des früheren Nationalrates Otto Fischer, die Einflussbereiche in überblickbarem Rahmen zu halten und damit eine der Lebensqualität der Bevölkerung optimal dienende staatliche Tätigkeit und die grösstmögliche aktive Mitarbeit von Bürgern und Bürgerinnen zu gewährleisten.
Dass unser Bundesstaat nicht nur aus Bürgern, sondern auch aus Gliedstaaten, unseren Kantonen besteht, findet seinen Niederschlag im Aufbau des Bundesparlamentes. Aus den Vertretern der Bürger bildet sich der Nationalrat, wogegen der Ständerat die Kantone vertritt. Da die Parlamentsgeschäfte von beiden Kammern gutgeheissen werden müssen, erreichen wir ein Korrektiv zwischen den grossen und kleinen Kantonen. Das Uebergewicht der im Nationalrat zahlenmässig viel stärker vertretenen Grosskantone wird durch den aus je zwei Abgeordneten pro Kanton gebildeten Ständerat ausgeglichen. Die Stärke der Stände begünstigt auch den erwünschten Ausgleich zwischen den Kulturen, Sprachen und Konfessionen. Die Hürde des in bestimmten Fällen obligatorischen Ständemehrs gab in letzter Zeit viel zu reden, zeitigt es doch eine staatspolitisch durchaus sinnvolle Tempierung der von den Political Correctness- Beseelten angestrebten beschleunigten Anpassungsgeschwindigkeit. Der durch die föderativen Elemente unseres Systems begünstigte und meist erreichte Ausgleich zwischen den tendenziell eher modisch-kurzlebigen politischen Zielsetzungen der Bewohner von Stadtagglomerationen und der eher verharrend-konservativen Haltung der Landbevölkerung, ist eines der längerfristig gesehen segensreichsten und daher kostbaren Gütezeichen der Eidgenossenschaft. Der wenig sensible, wenn nicht gar verständnislose Umgang vieler Vertreter der Massenmedien mit dieser Spezialität und die Forderung nach deren Abschaffung zeigt, wie erschreckend weit sich gewisse Kreise vom eidgenössischen Gedankengut entfernt haben.
Es wäre allerdings nicht korrekt, wollte man leugnen, dass die Einwände bezüglich Kantönligeist zum Teil, mindestens kurzfristig betrachtet, berechtigt sind. Tatsächlich kann auch unser auf Konsens und Kompromiss ausgelegter Kompass gelegentliche Fehlentscheide nicht verhindern. Drei Gesichtspunkte aus diesem Fragenkreis sind deshalb besonders erwähnenswert:
Einmal ist lapidar festzustellen, dass die durch den Föderalismus erzeugte bremsende Wirkung einen Teil des Preises darstellt, welchen wir für die Direkte Demokratie und unsere sprichwörtliche umfassende Stabilität, radikale Neuerer wollen diese als Rückständigkeit sehen, zu bezahlen haben.
Zweitens ist es durchaus nicht so, dass egozentrisches Denken von Regionen oder Bevölkerungsgruppen öfter in ländlichen als in städtischen Gegenden festzustellen wäre. Die Geschichte lehrt und die Gegenwart bestätigt es, auch der Stadtbewohner ist nicht davor gefeit, gelegentlich das gesamtheitliche Denken zu vernachlässigen, Verkehrs und Energieprobleme oder der Umgang mit Entsorgungs- und Oekologiefragen mögen als Beispiele dienen.
Drittens betrachte ich unser für den Kräfteausgleich zwischen Stadt und Land, zwischen unseren verschiedensten Regionen und Gruppierungen entwickeltes Instrumentarium, welches weltweit ein Unikum darstellt, als immerwährenden Prüfstein der Eidgenössischen Gesinnung . Das Gleichgewicht zwischen Zentralismus und Föderalismus muss von jeder Generation neu ermittelt, weise korrigiert, aber immer von einer Mehrheit von Ständen und Bevölkerung gewollt werden.
Die nächste diesbezügliche Weichenstellung bildet die Frage eines möglichen EU-Beitritts: Die zentralistische Grossadministration EU kann und will sich mit solchen direktdemokratischen Bremseinrichtungen nicht behindern. Ein EU-Beitritt würde zum Verzicht auf mehrere Dutzend Souveränitätsrechte zwingen, von uns die Aufgabe zentraler Elemente unserer Staatsidee verlangen. Den Fünfer und das Weggli können wir nicht haben. Es gibt nur ein Ja oder ein Nein. Als allerdings beschwerlicher Ausweg bleiben uns lediglich die oft schwierigen und zeitraubenden partiellen Bilateralverträge , wie wir sie dem Ausland seit dem deutschen Verzicht auf unser Hoheitsgebiet im Jahre 1499 immer wieder abgetrotzt haben. Die Schweiz ist eben seither tatsächlich ein Sonderfall. Ich bin stolz darauf und bereit, den entsprechenden Preis dafür zu bezahlen. Es würde die EU allerdings auszeichnen, wenn sie uns in unserer harterkämpften und auch für das benachbarte Ausland vorteilhaften Sonderstellung als Europas Eidgenossen akzeptieren würde