Die Topografie formt Menschen und Lebensverhältnisse

Die Suche nach den Wurzeln unserer Staatsphilosophie beginnt weit zurück in der Vergangenheit. Die Teile der heutigen Schweiz , welche von den Vorfahren der Alten Eidgenossen bereits in vorgeschichtlicher Zeit bewohnt waren, erlaubten kein angenehmes Leben. So gesehen hat sich also seither gar nicht viel geändert: Viele heutige Bewohner dieses Landes erachten die Alpennordseite wohl als geeignet für die tägliche Arbeit, um Ferien zu geniessen aber fahren wir gerne auf die Alpensüdseite . Die Gegensätze zwischen den beiden Alpenseiten könnten denn auch grösser kaum sein. Die sonnigen Gegenden brachten sonnige Menschen hervor, fröhliche, sorglose, gemütvolle, einfache, geduldige, bescheidene Leute, bei denen man sich sofort wohl fühlt. Wie unterschiedlich sind sie doch zu uns käsebleichen braven, fleissigen, sparsamen, wortkargen und nicht gerade umwerfend fröhlichen Bewohnern der kälteren Zonen der Alpennordseite. Die Unterschiede zwischen alpinen und mediterranen Menschentypen sind offensichtlich, und sie sind erklärbar. Es darf wohl angenommen werden, dass die Wage­mutigen, welche beim Abklingen der letzten Eiszeit die ausgeaperten Flanken unserer Berge bevölkerten, der Kälte und der Unbill trotzend der spärlichen Vegetation das Nötigste zum Leben abrangen, so den Grundstein zur Urbanisierung der Berg­regionen legten und sich später mit den aus Norden ein­gewanderten germanischen Stämmen, den Alemannen und Burgundern vermischten, den Urtypus des schweizerischen Berg­bewohners entstehen liessen.

Die Einwirkungen der Natur auf die Entwicklung dieser Menschen müssen gewaltig gewesen sein. Unsere Ahnen lernten unter Lawinen und Sturzbächen überleben, in Höhlen vor Raub­tieren Schutz finden, in Fellkleidern tiefste Temperaturen er­tragen, mit Keulen bewaffnet sich wehren. Sie erfuhren, wie all jene unter uns, die im Gebirge dauernd oder vorübergehend lebten oder noch leben, dass das Bergklima dem Menschen Freund aber auch erster und erbittertster Feind sein kann. Sie handelten daher überlegt, gingen bedächtigen Schrittes. Sie erlebten, dass Gedeihen nur in Familien oder in Gruppen möglich ist. Und dass den nächsten Winter nur überstehen kann, wer nicht zu faul ist, Vorräte an Nahrung und Holz anzulegen. All diese Einflüsse prägten den Charakter dieser Menschen nach­haltig. Um unter den extremen Verhältnissen leben zu können, mussten ganz spezifische Charaktereigenschaften er­worben worden sein. Ich glaube diese Bergler vor meinen Augen zu sehen: bedächtig, wortkarg, genügsam, fleissig, erdverbunden, erfinderisch, ausdauernd.

Aber da war noch etwas. Ihre Blicke blieben keineswegs immer nur auf die Zehen gerichtet. Sie schauten auch empor zu den eisgetürmten Bergspitzen, dorthin, wo sie die Gewalt über sich und die Naturkräfte vermuteten, wo hinaufzusteigen sie sich aber nie getraut hätten. Sie fürchteten die unsichtbaren Kräfte und sie achteten was sie sahen. Sie versuchten die oft über­raschend eintretenden Ereignisse zu verstehen und gaben ihre Einsichten lehrend oder ermahnend an die Nachkommen weiter. Es entstanden Regeln, später wohl auch Legenden oder Sagen. Die schwierigen Verhältnisse erforderten gegenseitige Rücksicht­nahme, grössere Aufgaben erheischten gemeinsames Anpacken. Enge und Bedrohungen liessen die Menschen wohl näher zusammen­rücken, erzeugten aber auch Angst und Beklemmnis. Gar manchem mag sich gelegentlich der Alb auf die Brust gesetzt und den Wunsch erzeugt haben, aus diesem mühsamen Leben auszubrechen. Doch wohin? Gibt es ausserhalb der uns be­kannten Marchen wohl klimatisch günstigere Landschaften? Vielleicht erzählten Sagen von fruchtbaren Gegenden, grossen flachen Weiden, sonnigen Stränden? Wer im Flachland lebt und täglich rundum in die fruchtbare Unendlichkeit blickt, braucht solche Fantasien nicht; die oft bedrückende Enge der Bergflanken dagegen erheischt zur Weitsicht eine ausgeprägte Vor­stellungs­kraft und das Erreichen eines Aussichtspunktes mit Blick in das Land der Träume viel Willen, Kraft und Ausdauer. Das macht stark.

Ist dies Geschichte, oder eine Geschichte? Eine Sage? Ein Mythos ? Sicher ist, dass sich die Bewohner der Alpennordflanke während vieler Jahrtausende an die besonderen Verhältnisse angepasst haben und dass sich dieser Prozess bis in die jüngste Zeit hin fortsetzte. Es wird daher wohl auch stimmen, dass bergstämmige Menschen zum Teil anders denken und fühlen als jemand, dessen Ahnen seit Generationen in einer grossen Stadt oder im Flachland gelebt haben. Stadt und Land sind nun einmal sehr verschieden, der hinterste Flecken in einem Krachen und unsere grossen Städte bilden Gegensätze die grösser nicht sein könnten. Dieser Umstand bewirkte immer wieder Turbulenzen in der Geschichte unseres Landes. Klagen hilft da nichts, wir müssen mit diesen Unterschieden leben. Kürzlich bemerkte ein Nationalrat eines grossen Flachlandkantons in einer Konferenz im Hinblick auf den EU-Graben in unserem Volk: „Die Berglertypen sterben langsam aus, Gott sei Dank!“ Als Bergler unter fast ausschliesslich Nordostschweizern fühlte ich mich wie ein dem Aus­sterben preisgegebener Indianer. Rassismus unter Schweizern? Wir müssen künftig wieder vermehrt aufeinander zugehen, uns gegenseitig achten. Wie wollen wir sonst die grossen Probleme angehen, welche es in nächster Zukunft zu lösen gilt?

Tatsache ist aber auch, dass die Völker nord- und südseits der Alpen stark unterschiedliche Verhaltensmuster aufweisen. Ueber­spitzt dargestellt: Wie soll der Nordländer, welcher sich von früh bis spät abrackern muss um den nächsten Winter überleben zu können, verstehen, dass der Südländer den halben Tag im Schatten liegt? Und wie soll der Südländer, dem während der Siesta die Trauben in den Mund wachsen begreifen, dass der Nordländer derweil in der ganzen Welt Geld zusammenkratzt um sich noch mehr leisten zu können?

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